Ob bei der Annullierung des “Tal-Gesetzes” oder bei den Diskussionen um die Sozialleistungen für Ultraorthodoxe – die Beziehungen zwischen religiösen und säkularen Juden in Israel sind kompliziert und werden häufig auf die Konfrontation reduziert.
Was bedeutet religiöses und was säkulares Leben in Israel? Diese Artikel versuchen, darauf eine Antwort zu finden.
Religion – 84% glauben an Gott
“Ja, es gibt einen Gott”, war die Zusammenfassung einer Studie zum Thema Glauben, Glaubenspraxis und Werte israelischer Juden überschrieben und fuhr fort “Zumindest glauben das 84% aller Befragten”.
Die Studie, die das Israelische Institut für Demokratie im Auftrag von Avi Chai durchgeführt hat, zeigte vor allem: So klar, wie manche sich den Graben zwischen Säkularen und Religiösen in Israel vorstellen, verläuft er schon lange nicht mehr.
So gaben etwa 76% der Befragten an, zu Hause koscher zu essen, und 61% denken, der Staat Israel solle sicherstellen, dass das öffentliche Leben der jüdischen Tradition entspreche. Gleichzeitig sprechen sich 60% für die Veranstaltung von Sportevents und kulturellen Aktivitäten am Shabbat aus, 58% unterstützen Öffentlichen Personenverkehr und die Öffnung von Einkaufszentren am Shabbat, und 51% sind der Meinung, in Israel solle die Zivilehe eingeführt werden.
Die einzige Möglichkeit der Eheschließung für jüdische Paare in Israel (Foto: fotosintesa)
Die Studie wurde 2009 durchgeführt, die Ergebnisse jedoch erst im Januar dieses Jahres veröffentlicht. 2.803 israelische Juden im Alter von über 20 Jahren wurden befragt.
Besonders interessant ist, dass es sich bei der Studie bereits um die dritte ihrer Art handelt, schon 1991 und 1999 hatte das Institut Israelis zu ihrem Glauben befragt.
So entwickelt sich die Religiosität im Vergleich zu den vorherigen Studien nicht linear in eine Richtung: Haben 1991 noch 24% der Befragten erklärt, sie “folgen weitgehend der religiösen Tradition”, waren es 1999 nur noch 19% und 2009 dagegen 26%.
Das reformierte “Beit Daniel” in Tel Aviv (Foto: Geller)
Die Ergebnisse nach Themen:
Feiertage: 85% der Befragten erklären, es sei wichtig, jüdische Feiertage traditionell zu begehen, doch sie tun es nur selektiv. 90% halten den Seder-Abend an Pessach für wichtig, 82% erklären, sie zündeten Kerzen an Hanukka an. Weniger, nur 67%, essen kein Chametz (gesäuertes Brot) an Pessach, 86% fasten an Yom Kippur, 36% hören die Esther-Rolle an Purim.
Kashrut: 76% essen zu Hause koscher, 70% auch außerhalb des eigenen Haues. 72% essen niemals Schweinefleisch, die meisten geben an, dies aus religiösen Gründen zu tun.
Nicht-orthodoxe Strömungen: Die meisten israelischen Juden (61%) glauben, dass das konservative und das liberale Judentum den gleichen Status haben sollten wie die orthodoxe Strömung.
Aliya: Die meisten der Befragten (87%) unterstützen die Einwanderung von Juden nach Israel und dass sie sofort die israelischen Staatsbürgerschaft erhalten. Nur 53% denken, die Staatsbürgerschaft und Einwanderung stünden auch nicht-jüdischen Ehepartnern zu.
93% der Befragten denken, ein Jude könne ein guter Jude sein, auch wenn er nicht den religiösen Traditionen folgt.
Schulwesen: Mehr ultra-orthodoxe Schüler
Hebräisch-sprachige israelische Schüler besuchen entweder eine ultra-orthodoxe, eine staatlich-religiöse oder eine säkulare Schule.
(Foto: Flash90)
Die ultra-orthodoxen Schulen sind dabei auf dem Vormarsch: Besuchten im Schuljahr 1999/2000 noch 20% aller Schüler in hebräisch-sprachigen Schulen eine ultra-orthodoxe Schule, waren es 2009/10 bereits 28%. Die Oberstufe besuchten an ultra-orthodoxen Schulen 2009/10 20%. 1999/2000 waren es noch 15% gewesen.
(Foto: Haifanet)
Deutliche Unterschiede gibt es zwischen den Schülerinnen und Schülern, die das Abitur ablegen. Legen in Israel insgesamt 56% der Schüler das Abitur ab (58% aller Schüler an hebräischen Schulen), so traf das nur auf 15-17% der ultra-orthodoxen Schüler mit bis zu vier Geschwistern und sechs Prozent der Schüler mit fünf oder mehr Geschwistern zu.
Die Armee – Thorato Omanuto
“Die Ultraorthodoxen gehen nicht zur Armee”, das weiß in Israel jedes Kind. Aber wie konnte es eigentlich dazu kommen? Und stimmt das so pauschal?
“Thorato Omanuto” heißt der Ausdruck aus dem Talmud, mit dem das Abkommen zwischen Religiösen und dem Staat in der Regel beschrieben wird. Auf Deutsch “Seine Kunst [Beschäftigung] ist die Thora”.
(Foto: Moti Milrod)
Noch vor der Staatsgründung, nämlich im März 1948, legte das Oberkommando der Hagana, des Vorgängers der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte, fest: “Es wurde entschieden, dass wer an einer Yeshiva studiert […] vom Armeedienst befreit ist”. Ein Grund dafür, die Schüler vom Militärdienst zu befreien, war die Fortführung der Tradition der großen Yeshivot in Europa, die in der Shoah vernichtet worden waren.
1949 entschied dann Ministerpräsident David Ben -Gurion, eine kleine Zahl von Yeshiva-Studenten für eine begrenzte Zeit unter der Bedingung von der Wehrpflicht freizustellen, dass sie keiner anderen Beschäftigung als dem Thora-Studium nachgehen.
400 junge Männer betraf dies im jungen Staat, das waren 0,07% der Bevölkerung.
1954 verfügte Verteidigungsminister Pinchas Lavon, Thora-Schüler nach vier Jahren des Studiums zum Armeedienst einzuziehen. Nach Protesten wurde die Regelung nicht umgesetzt.
1968 schließlich begrenzte Verteidigungsminister Moshe Dayan die Zahl der zu befreienden Yeshiva-Studenten auf 800 – und verpflichtete sich gleichzeitig, die Regelung fortzuführen.
Mit der Koalition Menachem Begins von 1977, an der auch die orthodoxe Partei Agudat Israel beteiligt war, wurde die Deckelung offiziell aufgehoben, die jedoch auch zuvor schon nicht angewendet worden war, um die Einziehung durchzusetzen.
1970, 1981 und 1986 wurde beim Obersten Gerichtshof Verfassungsbeschwerde gegen die Regelung eingelegt. Alle drei Male wurde die Klage mit unterschiedlichen Begründungen abgewiesen.
1986 wurde ein Unterausschuss des Verteidigungsausschusses der Knesset eingesetzt, um die Regelung zu prüfen. 1988 legte der Unterausschuss seine Empfehlungen vor, die umfangreiche Reformen bedeutet hätten. Diese wurden jedoch nicht umgesetzt.
(Foto: IDF)
Die Zahl der vom Armeedienst befreiten Yeshiva-Studenten stieg dramatisch an. Waren es 1974 noch 2,4% des Jahrgangs gewesen, die unter die Regelung fielen, waren es 1999 bereits 9,2%. 2005 fielen 41.450 Männer unter die Regelung. 16% des Jahrgangs 2010 wurden vom Armeedienst freigstellt.
Seit den 1990er Jahren mehrten sich auch im ultraorthodoxen Sektor selbst die Stimmen, die die Befreiung vom Militärdienst als problematisch betrachteten. Als wichtiges Problem stellte sich die Tatsache dar, dass eine Armeebefreiung unter der Voraussetzung, das ganze Leben müsse der Thora gewidmet sein, praktisch einem Arbeitsverbot und damit relativer Armut gleichkommt.
Ende 1998 stellte der Oberste Gerichtshof fest, dass die Regelung nicht rechtmäßig sei. 1999 wurde daraufhin die sogenannte “Tal-Kommission” unter Vorsitz des ehemaligen Richters Tzvi Tal eingesetzt, deren Ziel die Ausarbeitung von Vorschlägen für eine Neuregelung war. 2000 legte die Kommission ihren Bericht vor, und im Juli 2002 schließlich passierte das “Tal-Gesetz” die Knesset, das letztendlich nur geringfügige Veränderungen zur bereits bestehenden Regelung enthielt. Yeshiva-Studenten erhielten weiter einen Aufschub, mussten sich jedoch im Alter von 22 Jahren entscheiden, ob sie einen Beruf ergreifen und damit zunächst einen verkürzten Armeedienst oder ein soziales Jahr absolvieren wollten oder ihr Leben tatsächlich auch weiterhin der Thora widmen würden. Darüber hinaus sollten besondere Einheiten für Ultraorthodoxe geschaffen werden. Ziel der Regelung war, letztendlich mehr Ultraorthodoxe für den Arbeitsmarkt zu gewinnen.
2005 erklärte der Staat gegenüber dem Obersten Gerichtshof, die Ziele des Tal-Gesetzes seien nicht erreicht worden.
Im Mai 2006 entschied der Oberste Gerichtshof, dass das Tal-Gesetz die Würde jener Bürger verletze, die in den Israelischen Verteidigungsstreitkräften dienen. Dennoch wurde die Verlängerung um ein Jahr ermöglicht. Ein Jahr später, im Juli 2007, beschloss die Knesset die weitere Verlängerung des Gesetzes um fünf Jahre.
2009 veröffentlichte die Personalabteilung von ZAHAL Zahlen, die zeigten, dass die Zahl der vom Pflichtdienst befreiten Yeshiva-Studenten seit Verabschiedung des Tal-Gesetzes weiter angestiegen war.
Am 21. Februar 2012 untersagte der Oberste Gerichtshof fünf Monate vor Ablauf des Gesetzes seine weitere Verlängerung.
Eine Neuregelung steht noch aus, verschiedene Varianten werden intensiv diskutiert.
Kinder – je religiöser desto mehr
2011 hat das Zentrale Statistikamt erstmals eine umfassende Studie zur Geburtenrate in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit Schwerpunkt auf dem Grad der Religiosität vorgelegt. Untersucht wurde die Geburtenrate zwischen 1979 und 2009.
(Foto: Jerusalemshots)
Die Studie zeigte für alle untersuchten Jahre einen klaren Zusammenhang zwischen dem Grad der Religiosität und der Zahl der Geburten pro Frau. Je religiöser eine Frau ist, desto mehr Kinder gebärt sie im Laufe ihres Lebens. Trotzdem zeigte die Studie Veränderungen über die Jahre.
Zahl der Geburten pro Frau 1979 – 2009:
- Gestrichelte Linie: Durchschnitt
- Dunkelblau: Ultraorthodoxe
- Rot: Religiöse
- Hellblau: Traditionell religiös (Massorti dati)
- Grün: Traditionell weniger religiös
- Braun: Säkular/Nicht religiös
Die Geburtenrate ultraorthodoxer Frauen liegt demnach heute bei 6,5 Kindern pro Frau. Säkulare jüdische Frauen gebären im Durchschnitt 2,1 Kinder.
Auch der Zeitpunkt für Kinder unterscheidet sich: Werden die meisten Geburten pro 1000 Frauen unter den Ultraorthodoxen im Alter von 25-29 Jahren verzeichnet (350-400 Kinder pro 1000 Frauen, im Gegensatz zu immerhin noch 300-350 Kindern pro 1000 Frauen für das Alter 19-24), so liegt das wichtigste Alter für das Gebären von Kindern bei den säkularen Frauen seit den 1990er Jahren zwischen 30 und 34 Jahren. Die Geburtenrate bei säkularen Frauen zwischen 20 und 24 Jahren ist in etwa so hoch oder niedrig wie die von ultraorthodoxen Frauen zwischen 15 und 19 Jahren.
Auf der Collage oben sind zu sehen
(von links nach rechts): anonyme orthodoxe Frau; das Model Bar Refaeli; Rabbi Israel Abuchatzeira, der “Baba Sali”; Tommy Lapid, Gründer der ultra-säkularen Partei “Shinui”; Innenminister Eli Yishai, Initiator der Wiedereinführung der Bezeichnung “jüdisch” im Personalausweis; der Schriftsteller Yoram Kaniuk, der für sich die Bezeichnung “jüdisch” aus dem Eintrag im Bevölkerungsregister hat streichen lassen; Soldat einer orthodoxen Sondereinheit; Soldatinnen einer regulären Einheit; religiöse Frauen; säkulare Frauen; Tzabar Gadish, Kandidat im israelischen “Big Brother”; anonymer orthodoxer Mann