Von Shlomo Avineri, Haaretz, 08.08.12
Die wichtige Frage heute scheint nicht mehr zu lauten, ob Bashar al-Assad überlebt, sondern ob Syrien als Staat überleben wird. In seinen gegenwärtigen Grenzen ist Syrien keine historische oder ethnisch homogene Einheit, sondern die Frucht imperialer britisch-französischer Abkommen. Beide Länder haben nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen jener Staaten festgelegt, die aus den Ruinen des osmanischen Reiches hervorgegangen sind. Da gab es zunächst das Sykes-Picot-Abkommen und die komplexen Auswirkungen des Aufstandes des Emirs Faisal. Anschließend beschloss Frankreich, den Libanon von Syrien abzuspalten und „Großlibanon“ Gebiete zuzuschlagen, die über den historisch christlichen Libanonberg hinausgingen. Und schließlich, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges gab Frankreichs der Forderung der Türkei nach, ihr Iskanderun (Hatay) zu überlassen.
Frankreich war es auch, das die alawitische Minderheit in Syrien zum Dienst in der Armee ermutigte, um so ein Gegengewicht zur sunnitischen Mehrheit zu schaffen – getreu dem traditionellen kolonialistischen Grundsatz des divide et impera. Dieses Prinzip wirkt bis heute fort – letztendlich ist es der Grund dafür, dass die alawitische Minderheit unter dem Schutz der säkularen Baath-Partei die Macht übernehmen konnte. Und diese Maxime ist es auch, die zu der eigentlich paradoxen Situation führen konnte, dass das Assad-Regime bis heute in der christlichen Minderheit breite Unterstützung findet. Diese 10% der Bevölkerung sehen in ihm bis heute, trotz seines repressiven Charakters, das kleinere Übel im Vergleich zu einer sunnitisch geprägten Diktatur. So wie im Irak und in Ägypten ging auch in Syrien die Säkularität Hand in Hand mit einem repressiven Staat – bei allen Unterschieden zwischen Saddam Hussain, Husni Mubarak und Bashar al-Assad.
Der gegenwärtige syrische Bürgerkrieg ist nicht nur ein Krieg gegen das unterdrückerische Regime Assads – er ist auch zu einem Krieg unter religiösen und ethnischen Vorzeichen geworden. In dieser Hinsicht erinnert er ein wenig an Jugoslawien. Die Stärkung radikaler islamistischer Kräfte in den Reihen der Opposition – manchmal mit saudischer Unterstützung, teilweise in Verbindung mit al-Qaida – lässt erahnen, dass die Nachfolger des Assad-Regimes alles andere als Demokraten sein werden.
Die Minderheiten verstehen das sehr gut. Einige Christen verlassen bereits Syrien, und die Kurden im Nordosten denken über eine Autonomie nach, die möglicherweise mit dem autonomen Kurdengebiet im Nordirak verbunden werden könnte. Wenn al-Assad fällt, kann man sich leicht ein Szenario ausmalen, bei dem die Alawiten sich in die Berge zurückziehen. Und wer weiß schon, wie die Türken reagieren werden, die in Bezug auf die Grenze zwischen den beiden Staaten noch eine lange Rechnung mit Syrien offen haben. Andererseits sind auch Auswirkungen auf die große alawitische Minderheit im Südosten der Türkei möglich, genauso wie auf das Schicksal der Sunniten im Libanon, die vor allem in der Region um Tripoli an der Grenze zu Syrien leben.
Die so unklare Situation in Syrien deutet auf bevorstehende tiefgreifende Umbrüche hin, deren Auswirkungen nicht auf die Frage nach der Zukunft bestimmter Regimes beschränkt bleiben, sondern die Existenz der Staaten selbst berühren werden. Erstmals wird die territoriale Ordnung erschüttert, die nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen wurde und an deren Fortbestand bis jetzt alle regionalen Herrscher ein Interesse hatten. So war es im Irak, der heute bereits kein arabischer nationaler Einheitsstaat mehr ist. Und im Sudan, dessen Grenzen während der britischen Besatzung Ende des 19. Jahrhunderts festgelegt wurden und der heute bereits in zwei Staaten geteilt wurde, ohne dass dies das letzte Wort zu sein scheint. Und auch in Libyen tun sich jene, die Muammar Gaddafi besiegt haben, schwer damit, die Einheit des Staates zu wahren.
In der gegenwärtigen angespannten Atmosphäre könnte dieser Artikel durch arabische Kommentatoren einmal mehr als „Beweis“ für eine zionistische Initiative gegen die arabische Welt ausgelegt werden. Jede Erklärung, dass es sich nur um eine Interpretation einer möglichen Entwicklung handelt, wird Verschwörungstheoretiker nicht überzeugen. Doch historische Prozesse haben manchmal unerwartete Auswirkungen – und so wie der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht Demokratie sondern Wladimir Putin gebracht hat, können uns auch die Entwicklungen des Arabischen Frühlings noch überraschen.
Der Autor ist Emeritus für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem.
Die auf der Website veröffentlichten Kommentare geben nicht grundsätzlich den Standpunkt der israelischen Regierung wieder, sondern bieten einen Einblick in die politische Diskussion in Israel.