Von Amos Harel, Haaretz, 02.04.13
In der Palästinensischen Autonomiebehörde weiß man sehr gut, dass Maysara Abu Hamdiya aus Hebron, der am Dienstagmorgen in einem Gefängnis in Israel an Krebs gestorben ist, nicht durch israelische Grausamkeit erkrankt war. Und wahrscheinlich geht die Leitung der Autonomiebehörde auch davon aus, dass der letzte, Ende Februar, in einem israelischen Gefängnis verstorbene palästinensische Häftling, Araft Jaradat, ebenfalls nicht durch israelische Folter gestorben ist.
Und dennoch beschuldigte in beiden Fällen der Vorsitzende der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, öffentlich Israel, für den Tod der Häftlinge verantwortlich zu sein. Im ersten Fall erhob er ausdrücklich Anschuldigungen zu Folter; heute behauptete er, dass Israel den Häftling wegen seiner Krankheit hätte nach Hause entlassen müssen. (Bei der Gefängnisbehörde erklärt man, dass der Prozess zu seiner Freilassung bereits begonnen hätte, er jedoch verstorben sei, bevor er entlassen werden konnte.)
Die Autonomiebehörde ist nicht daran interessiert, eine dritte Intifada in den Palästinensergebieten anzufachen. Doch ihre Führung hat aus zwei Erwägungen ein Interesse daran, öffentlich Vorwürfe gegen Israel zu erheben. Die erste Erwägung ist, dass das Problem der Häftlinge ihrer Meinung nach weiterhin weit oben auf der politischen Agenda bleiben sollte. Auch nach dem Shalit-Deal gibt es Tausende palästinensischer Familien, die auf die Entlassung ihrer in Israel zu Haftstrafen verurteilten Söhne warten. (Schlimmer noch – der Fatah ist es bis heute nicht gelungen, auch nur einen von ihnen aus dem Gefängnis frei zu bekommen, im Gegensatz zur Hamas, die erfolgreich mehr als eintausend Häftlinge von Israel freigepresst hat.)
Der verbale Angriff auf Israel nach dem Tod des Häftlings ist also Abbas‘ Antwort auf die Erwartungen der Öffentlichkeit zu Hause. Die Fortsetzung des Drucks auf die Regierung Netanyahu neben dem fortgesetzten Hungerstreik einiger Häftlinge könnte letztendlich zur Freilassung einiger Häftlinge führen, etwa im Rahmen von Gesten an die Autonomiebehörde, die die der US-Regierung von Israel in Kürze erwartet und wie sie auch während des Besuches von US-Präsident Obama angesprochen wurden.
Die zweite Erwägung der Leitung der Autonomiebehörde ist die Fortführung des Volkskampfes im Westjordanland. Streiks und Aufstände von Häftlingen in israelischen Gefängnissen, Protestkundgebungen im Westjordanland, die von Zusammenstößen mit den Israelischen Verteidigungsstreitkräften und dem Grenzschutz begleitet wurden – all dies wird als der palästinensischen Sache dienlich aufgefasst, solange der Kampf nicht außer Kontrolle gerät und die beiden Seiten in eine bewaffnete und ausufernde Auseinandersetzung gezogen werden. Die Autonomiebehörde hat auch ein gewisses Interesse daran, die Wut gegen Israel im Westjordanland anzufachen, da sie selbst unter interner Kritik wegen der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage leidet.
In zwei Wochen begehen die Palästinenser den Tag des Häftlings. Mitte Mai und Anfang Juni folgen die Tage der Nakba („Katastrophe“) und der Naksa (des Ausbruchs des Sechs-Tage-Krieges). Für Israel sind all dies Tage, in denen es zu Unruhen kommen kann. Beinahe jedes Jahr wird im Vorhinein die Stimmung angeheizt.
Wie zu erwarten, haben am Dienstag Aktivisten der Hamas und des Islamischen Jihad aus dem Gazastreifen die Einwohner des Westjordanlandes dazu aufgerufen, als Reaktion auf den Tod des Häftlings eine dritte Intifada zu beginnen. Mindestens zwei Mörsergranaten wurden am Dienstag aus dem Gazastreifen auf israelisches Gebiet abgefeuert. Und dennoch sieht es zurzeit noch so aus, als sei es im Interesse der Herrscher im Gazastreifen, im Westjordanland für Spannungen zu sorgen und nicht zu Hause. Die meiste Zeit sorgt die Hamas für Ruhe im Gazastreifen und verhindert bis auf Einzelfälle den Beschuss israelischen Gebietes durch kleinere Gruppen. Daher wird sich auch Israel in seiner Reaktion auf den Beschuss, den zweiten Zwischenfall innerhalb von zwei Wochen, zurückhalten.
Aus israelischer Sicht liegt die größere Gefahr im Moment im Westjordanland und nicht im Gazastreifen. Es stimmt, dass eine dritte Intifada zurzeit nicht wahrscheinlich scheint, obwohl man im Gazastreifen darauf hofft. Doch man kann die ständig steigende Zahl von Zwischenfällen „aus dem Volk“ (Steinwürfe, Molotow-Cocktails, Demonstrationen) nicht ignorieren, die sich im vergangenen halben Jahr ereignet hat. Letzten Endes gibt es hier eine wachsende Masse, die bedeutet, dass das Westjordanland stürmischer und angespannter ist als in den vergangenen Jahren. Wenn die Zeit reif ist, kann mit einem Auslöser, der größer ist als der Tod eines Häftlings durch Krebs, auch ein größerer Aufstand ausbrechen als die, die wir in den letzten Runden der Gewalt erlebt haben.
Der Autor ist Kommentator für Armeeangelegenheiten bei der Tageszeitung Haaretz.
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