Von Niri Livne, Haaretz, 01.11.12
Am Freitag war ich mit meinem Sohn zum Abendessen bei meiner Freundin eingeladen, die vorrübergehend mit ihrem Mann in Berlin ist. Berlin ist bekanntermaßen eine riesige Stadt. Die Fahrt zu dem Abendessen dauerte eine Stunde, während derer ich fünf Stationen mit der Tram fuhr und danach drei verschiedene U-Bahn-Linien benutzte, zu denen ich jedes Mal unglaublich viele Treppen hoch- und runtersteigen musste. Für den Rückweg nahm ich eine andere Strecke: Diesmal waren es 19 Stationen S-Bahn, ein kurzer Fußweg und dann noch eine Fahrt in der Tram.
Das heißt, um zu einem Abendessen innerhalb Berlins zu gelangen, brauchte ich genauso lange, wie ich brauchen würde, wenn ich mich entschiede, von Tel Aviv nach Jerusalem zu fahren, dort zu Abend zu essen und gleich danach wieder nach Tel Aviv zurück zu fahren. Nur, dass, wenn man mir ein solches Abenteuer in Israel vorschlagen würde, ich lange darüber nachdenken würde, bevor ich meine Seele mit einer solchen Fahrt belasten würde, und das nur für ein Abendessen. Es ist ja schließlich bekannt, dass eine Fahrt nach Jerusalem mit öffentlichen Verkehrsmitteln ein anstrengendes Erlebnis ist, egal ob man sich für die Fahrt mit Bus und Straßenbahn entscheidet oder für das Servicetaxi, um die unangenehme Fahrt in der Straßenbahn zu vermeiden.
Es ist überflüssig zu erwähnen, dass eine Hin- und Rückfahrt von Tel Aviv nach Jerusalem mich mindestens 50 Shekel (etwa 10 Euro) gekostet hätte, während die Fahrt zu dem Abendessen einschließlich Rückfahrt und weiterer Fahrten am selben Tag anteilig an der Monatskarte, die ich mir sofort nach meiner Ankunft in Berlin gekauft hatte, etwa 13 Shekel (etwa 2,60 Euro) gekostet hatte. Außer über den Preis […] wundere ich mich vor allem darüber, dass ich in dem Monat, seitdem ich in Berlin bin, jeden Tag mindestens drei Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln verbracht habe, eine solche Fahrt für mich aber kein ermüdendes Erlebnis ist, während eine 40-minütige Fahrt im Bus vom Masrik-Platz zur Shoken-Straße in meiner Wahrnehmung wahnsinnig nervtötend ist und mich manchmal erwägen lässt, mir die Pulsadern aufzuschneiden und/oder die Pulsadern jener, die neben mir sitzen und mich mit ihren vollkommen inhaltslosen Telefongesprächen langweilen (meine eigenen Telefongespräche sind natürlich Kunstwerke der Redekunst), von denen ich mich danach erst einmal über längere Zeit erholen muss.
Ich habe dafür mehrere Erklärungen:
Die erste hängt natürlich damit zusammen, dass die völlige Ungewissheit darüber, wann der Bus kommen wird und wie lange die Fahrt dauern wird, jeden Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs zu einem Menschen mit niedriger Angstschwelle macht. Angst wird schnell zu Genervtheit, und beide sind äußerst ermüdend. In Deutschland, und davon zeugen schon tausende Witze über die Shoah, fahren die Busse und Bahnen pünktlich.
Die zweite Erklärung hängt mit dem Verhalten der Fahrer zusammen. Nicht selten, vor allem, wenn man mit dem Taxi fährt, hat man den Eindruck, dass eigentlich die Fahrgäste für den Fahrer arbeiten und daher im besten Fall den Radiosender anhören müssen, den er auswählt, und im schlimmsten seine persönliche Leidensgeschichte und seine politischen Ansichten.
Doch auch wenn man mit dem Bus fährt, ist eine Interaktion mit dem Busfahrer unvermeidlich, da er bei uns dafür verantwortlich ist, die Fahrkarte zu verkaufen oder die Monatskarte zu kontrollieren, während man in Berlin, wie überall sonst in Europa auch, die Fahrkarten außerhalb des Busses kauft und sich so jeder Kontakt mit dem Busfahrer auf ein Kopfnicken oder ein „Guten Morgen“ beschränkt.
Während dieses Monats habe ich noch nicht einen Bus- oder Taxifahrer gesehen, der das Radio angeschaltet oder am Telefon gesprochen hätte – und auch nicht mit einem Fahrgast.
Doch das wichtigste ist das Verhalten der Fahrgäste selbst. Ein israelischer Freund hier hat mir erzählt, dass seine Mutter während eines Besuchs hier, sie sehr verwundert darüber gewesen sei, wie höflich hier alle waren. Niemand spräche laut mit seinen Freunden und beinahe nie spreche jemand auf der Straße am Telefon. „Was hast du denn erwartet, Mama“, sagte mein Freund ihr, „alle hier sind Jeckes“.
Doch nicht alle in Berlin sind als Jeckes geborgen. In Berlin gibt es auch eine halbe Million Türken, viele, viele Ostasiaten und Osteuropäer, Amerikaner, Israelis und Kanadier. Doch irgendwie verhalten sich alle in Berlin wie Jeckes, auch wenn sie so aussehen, als kämen sie aus Ghana oder Saudi-Arabien. Sogar die Israelis hier sprechen nicht laut mit ihren Freunden und halten ganz bestimmt keine Monologe ins Mikrofon ihres Handys. Es sind ganz genau dieselben Israelis, die, wenn sie neben mir in Israel im Bus säßen, unter der Last der Geschichte des Fahrers zusammengebrochen und daher, ohne es zu wollen, seine Leidensgenossen geworden wären. Wenn sie hier im Bus sitzen oder stehen, schauen sie auf irgendeinen nicht näher definierten Punkt im eng gedrängten Raum und vermeiden so gut es geht Augenkontakt oder laute Gespräche mit ihren Freunden – von telefonieren gar nicht zu sprechen. Sie ziehen es vor zu stehen und auf einen Sitzplatz zu verzichten, nur um jeden zwischenmenschlichen Kontakt zu vermeiden. Plötzlich werden auch sie hier zu Jeckes.
Einige der interessantesten Geschichten, die ich jemals gehört habe, habe ich während Bus- und Bahnfahrten in Israel gehört – in der Regel, ohne es zu wollen. Ob man es will oder nicht, die Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln in Israel ist ein Gemeinschaftserlebnis. Die Existenz der anderen ist jede Sekunde spürbar. Hier in Berlin ist so eine Fahrt etwas Persönliches. Während der Zug Entfernungen überwindet, bin ich mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Niemand stört meine Ruhe. Das ist angenehm.
Nur manchmal fühle ich mich ein bisschen verwaist.
Die Autorin ist Journalistin.
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