Von Shlomo Avineri, Haaretz, 25.10.12
Im April 1992 kam Generalstabschef Ehud Barak als Leiter der ersten offiziellen Delegation der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte ins Vernichtungslager Auschwitz. Der Schlüsselsatz seiner Rede – „Wir sind zu spät gekommen“ – weckt bis heute einen Sturm der Gefühle im Herzen jedes Juden und Israelis, denn er ist Ausdruck der komplexen historischen Zusammenhänge zwischen dem Staat Israel und dem Gedenken an die Shoah.
Einerseits ist es schwer, den Worten Baraks auf der Tatsachenebene zuzustimmen. Denn einerseits würden heute viele Sachen vielleicht tatsächlich anders aussehen, hätte es in der Zeit des Zweiten Weltkriegs einen jüdischen Staat gegeben: Europäische Flüchtlingsschiffe wären nicht wegen der Politik der britischen Mandatsregierung an den Küsten des Landes abgewiesen worden; es ist davon auszugehen, dass die Regierung eines jüdischen Staates sich effektiver für die Rettung von Juden aus den besetzten europäischen Ländern hätte einsetzen können als der hebräische Yishuv in Eretz Israel, der der feindlichen Politik der Mandatsregierung unterlag. Diese belegte Berichte über versuchte Rettungsaktionen sogar mit Zensur, um negative Reaktionen seitens der arabischen Bevölkerung im Land und der arabischen Regierungen zu vermeiden, von denen einige ohnehin den Nazis zuneigten.
Doch es ist klar, dass auch wenn es in den 1940er Jahren eine jüdische Armee gegeben hätte, sie nicht fähig gewesen wäre, in das besetzte Europa einzudringen und die Vernichtungsmaschinerie der Nazis aufzuhalten. Schließlich hat es am Ende vier Jahre gebraucht, bis die vereinten Kräfte der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens das Dritte Reich schlagen und Europa von der europäischen Besatzung befreien konnten.
Dennoch steckt in den Worten Baraks eine innere Wahrheit, die mit der historischen und moralischen Logik der Gründung des Judenstaates zusammenhängt, die ihren Ausdruck in dem Satz „Nie wieder“ findet. Wenn man diesen Slogan einmal prüft, wird deutlich, was in ihm steckt und was nicht. Es steckt in ihm nicht – und kann es auch nicht – eine Verpflichtung dazu, dass Israel auf jeden Fall eine Gefahr für jede Gruppe von Juden verhindern kann, wo auch immer sie auch lebt. Es gibt Fälle, wo Israel das kann, zum Beispiel im Fall der äthiopischen Juden. Doch es ist klar, dass, wenn es zu einem antijüdischen Pogrom in einem fernen Land kommt – nehmen wir an, in Lateinamerika – Israel nicht wird eine Hilfstruppe schicken können, die zehn- oder hunderttausend Juden rettet. In der Realität existiert eine solche Möglichkeit nicht.
Doch es gibt etwas, das Israel eben doch tun kann, und das ist die normative Wurzel seiner Existenz: Wenn die Gefahr einer Verfolgung oder gar Vernichtung einer Gruppe von Juden an irgendeinem Ort auf der Welt droht, dann gibt es nie wieder die Situation, dass diese Juden keinen Zufluchtsort haben. Denn nicht weniger schlimm als die Politik der Nazis war die Tatsache, dass auch in der Zeit, als man noch aus Europa auswandern oder flüchten konnte, kein Land auf der Welt – nicht die Vereinigten Staaten und nicht das demokratische Großbritannien – bereit war, eine Masseneinwanderung von Juden auch nur in Betracht zu ziehen. Die Staaten der Welt haben aus innen- und außenpolitischen Erwägungen so gehandelt, die verständlich sind, doch so haben sie damit viele Juden zum sicheren Tod verurteilt. Die Konferenz von Évian 1938 ist ein schrecklicher Beweis für das Scheitern des westlichen Liberalismus bei der Verteidigung der verfolgten jüdischen Minderheit in Europa.
Dies ist die wahre Bedeutung – der moralische Inhalt – der Worte „Nie wieder“: Heute werden verfolgte Juden einen Staat haben, der sie mit offenen Armen empfangen wird. Nie wieder werden die Tore verschlossen sein, nie wieder Schiffe umkehren müssen, nie wieder politische und strategische Erwägungen Menschen zu Verfolgung, Tod und Vernichtung verurteilen.
Diese Verpflichtung ist die moralische Basis für das Rückkehrgesetz. Es ist wahr, dass es sich dabei, wie bei jedem Migrationsgesetz, um ein diskriminierendes Gesetz handelt – es unterscheidet zwischen Juden und Nichtjuden. Doch dieses Gesetz ist das gelungenste Beispiel für positive Diskriminierung (affirmative action): Das Rückkehrgesetz korrigiert die schreckliche Diskriminierung, unter der Juden vor der Gründung des Staates Israel gelitten haben, da sie keinen eigenen Staat hatten und weil sie in den Zeiten der Not als Fremde und unerwünscht galten. So war es nicht nur in Nazi-Deutschland, sondern auch in England, in den USA, in Kanada und in allen anderen demokratischen Staaten der Erde. Nur Rafael Trujillo, der Diktator der dominikanischen Republik, war bereit, einer Gruppe von Juden Obdach zu gewähren, weil er hoffte, seinen Staat auf diesem Wege entwickeln zu können.
Darüber hinaus ist das Rückkehrgesetz ein solidarisches Gesetz, da es das Recht eines jeden Juden festlegt, nach Israel einzuwandern – nicht aus Erwägungen des Staates oder seiner bereits dort lebenden Bürger, sondern durch eine Identifikation und Solidarität mit jedem Juden auf der Welt. Darin unterscheidet sich das Gesetz von den meisten Einwanderungsgesetzen auf der Erde: Demokratische Staaten setzen heute ihre Einwanderungspolitik nach Bedarf fest und öffnen ihre Tore für Menschen mit Berufen, die sie gerade benötigen oder für solche, die bei ihnen investieren wollen. In anderen Worten sind sie offen für solche, die ihnen gut tun, nicht die, die es nicht tun; für die Reichen und nicht für die Armen.
Natürlich gibt es auch Kontingente für Flüchtlinge und Asylbewerber, doch diese immer nur in Maßen. Die Vereinigten Staaten sind schon lange nicht mehr der Zufluchtsort, von dem die jüdische amerikanische Dichterin Emma Lazarus schrieb: „Send these, the homeless, tempest-tossed to me“. Das reiche und demokratische Amerika baut unter der Ägide Barack Obamas einen Zaun an der Grenze zu Mexiko, um Millionen Arme und Notleidende aus Lateinamerika daran zu hindern, am amerikanischen Traum teilzuhaben – und von relevanten Protesten in Harvard und Berkeley gegen diese Politik haben wir bisher noch nichts gehört.
Das Rückkehrgesetz geht hingegen davon aus, dass, solange es die Möglichkeit gibt, dass ein einzelner Jude oder eine Gruppe von Juden sich in Gefahr befinden oder dass ein Jude lieber hier lebt als an einem Ort, an dem er zu einer Minderheit gehört, er das Recht dazu hat. Es ist zu hoffen, dass wenn eines Tages (und sehr bald) ein palästinensischer Staat an der Seite Israels gegründet wird, auch er ein Rückkehrgesetz einführen wird – das natürlich ein diskriminierendes Gesetz sein wird: Nicht nur gegenüber Juden, sondern auch gegenüber Arabern aus anderen Staaten. Es wird sich dabei um positive Diskriminierung handeln – ganz genauso wie beim Rückkehrgesetz des Staates Israel.
Das Verständnis der moralischen Basis des Rückkehrgesetzes ist wichtig für die gegenwärtige Diskussion zu Flüchtlingen und Asylbewerbern aus Afrika. Auch wer davon überzeugt ist, dass die Politik Israels zu streng und manchmal sogar unmenschlich ist, darf nicht sein moralisches Gewissen verlieren, das die Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden rechtfertigt, wenn es um die Einreise in den Staat Israel geht. Die meisten Aktivisten für die Rechte der Flüchtlinge handeln aus humanitären Erwägungen; doch es ist möglich, dass es unter ihnen auch solche gibt, die durch ideologische Auffassungen motiviert sind, die eigentlich das Rückkehrgesetz abschaffen und Israel für eine Masseneinwanderung ohne jede Unterscheidung öffnen wollen. Das ist eine legitime Einstellung, die man natürlich ansprechen darf (und man darf auch gegen sie sein) – doch es ist wichtig, dass sie offen zu Gehör gebracht wird und sich nicht hinter humanitären Argumenten oder emotionalen Manipulationen verbirgt.
Ebenso wie die amerikanische affirmative action im Erziehungswesen schreckliches historisches Unrecht gegenüber den Schwarzen korrigiert hat, so hat das Rückkehrgesetz ein beängstigendes Unrecht korrigiert, das zum Mord an Millionen Juden (darunter meine Großeltern) während der Shoah geführt hat, weil kein Staat bereit war, sie aufzunehmen und auch das Eretz Israel der Mandatszeit ihnen verschlossen war. Zumindest das wird nicht mehr geschehen – was Israel im Gegenzug verpflichtet, eine ausgewogene und humane Politik in der Flüchtlingsfrage zu ergreifen. Das ist etwas, das alle israelischen Regierungen bisher nicht getan haben, obwohl Versuche unternommen wurden, eine Einwanderungspolitik zu entwerfen, die zwischen den Bedürfnissen des Staates und humanitären Erwägungen ausgleicht. Doch das Rückkehrgesetz ist, genauso wie die Freiheitsstatue, über die Emma Lazarus ihr Gedicht geschrieben hat – ein Leuchtturm der Menschlichkeit und der Moral. Wer das ignoriert, demonstriert damit eine moralische Indifferenz, die nur schwer nachzuvollziehen ist.
Der Autor ist Emeritus für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem.
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