Von Shlomo Avineri, Haaretz, 02.01.12
In der öffentlichen Debatte zum Umgang mit der iranischen Herausforderung, muss zwischen dem Thema Atomwaffen und der rassistischen Rhetorik des Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad unterschieden werden, der den Holocaust leugnet und zur Vernichtung Israels aufruft.
Es ist nicht einfach, angemessen auf das Thema Atomwaffen zu reagieren, doch es befindet sich im Zentrum der internationalen Agenda, und es scheint, als habe die Beschäftigung damit an Fahrt aufgenommen. Anders sieht es bei dem zweiten Thema, der Holocaust-Leugnung, aus. Hier sind sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die jüdische Öffentlichkeit daran gescheitert, dass sie bisher keine angemessene Reaktion gefunden haben.
Wie zu erwarten war, haben Staatsoberhäupter Ahmadinedschad für seine Aussagen gerügt – doch mehr ist nicht passiert. Nehmen wir für einen Moment einmal an, ein Regierungsmitglied eines europäischen Staates würde erklären, die Shoah habe es nicht gegeben und Israel müsse vernichtet werden. Es steht außer Zweifel, dass die Europäische Union reagieren würde, indem sie ihre Botschafter abzieht, wenn sie nicht vielleicht sogar die diplomatischen Beziehungen ganz kappen oder den betreffenden Politiker zur persona non grata in den Ländern der EU erklären würde. Wegen weniger radikalen Äußerungen von Jörg Haider wäre Österreich beinahe aus der EU ausgeschlossen worden.
Ahmadinedschad wurde mit solchen Sanktionen nicht belegt. Dies stellt, gerade in Europa, das in den letzten Jahren bedeutende Schritte unternommen hat, um das Andenken an die Shoah in den Lehrbüchern und der kollektiven Erinnerung zu verankern, ein schwerwiegendes politisches und moralisches Scheitern dar. Sich der drohenden atomaren Bewaffnung Irans anzunehmen, ist die eine Sache, doch hier geht es um eine grundlegende Angelegenheit, in der Europa seine soft power einsetzen könnte, auf die es so stolz ist.
Es ist noch nicht zu spät. Es gibt keinen Grund für die Europäische Union, Ahmadinedschad nicht zur persona non grata zu erklären. Zwar ist es bereits jetzt nicht gerade der größte Wunsch des iranischen Präsidenten, Europa zu bereisen – doch ein echter Ausschluss wäre ein deutliches Zeichen für das iranische Volk. Die Sanktionen müssten dabei nur den Präsidenten betreffen, nicht den Staat. Es ist unerträglich, dass ein solcher Schritt nicht bereits längst gemacht worden ist.
Doch auch die jüdische Seite ist in dieser Angelegenheit gescheitert. Als die Sowjetunion die Immigration von Juden untersagte, nahmen es die jüdischen Gemeinden auf sich, den sowjetischen Vertretern in der Welt das Leben schwer zu machen. Bei Demonstrationen vor sowjetischen Botschaften, durch peinliche Fragen zur Ausreisefreiheit bei jeder Pressekonferenz eines sowjetischen Politikers im Westen und auf viele andere Arten machten sie das Thema "ausreisewillige Juden" zum Problem für das Sowjetregime. Die Berichterstattung in den Medien zu diesen Demonstrationen tat ihr übriges.
Die jüdischen Gemeinden haben nicht auf ähnliche Weise auf die Holocaust-Leugnungen von Ahmadinedschad und seine Drohungen, Israel zu vernichten, reagiert. Es gibt keinen Grund, dass nicht Demonstrationen vor iranischen Botschaften überall auf der Welt stattfinden, dass die iranischen Botschaften nicht bei jedem Auftritt oder jeder Reise von Demonstranten mit Schildern mit der Aufschrift "Holocaust-Leugner raus!" begleitet werden. Es ist nicht zu erwarten, dass Ahmadinedschad daraufhin seine Meinung ändern würde, doch eine Berichterstattung über solche Demonstrationen wird vom Iran einen hohen Preis in seiner öffentlichen Wahrnehmung fordern.
Am 27. Januar ist internationaler Holocaust-Gedenktag. Es ist noch nicht zu spät für die EU: Sie sollte zumindest den minimalen symbolischen Schritt tun und Ahmadinedschad zur persona non grata erklären. Es ist noch nicht zu spät für die jüdischen Organisationen in den USA und Australien: Sie können Protestdemonstrationen vor den iranischen Botschaften organisieren.
Es gibt Dinge, über die man nicht schweigend hinwegsehen darf und gegen die man Tag für Tag, Stunde um Stunde protestieren muss. Eine solche Sache ist die Leugnung des Holocaust aus dem Munde eines Staatsoberhauptes und die Verkündigung der Absicht, einen anderen Staat zu vernichten.
Der Autor ist Emeritus für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem.
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