"Der Staat Israel muss sich die Frage beantworten: Was
wollen wir mit Gaza machen? Seit Israel den Gazastreifen im Jahr 2005 verlassen
hat, kommt es immer wieder zu Gewaltkonflikten, die den Bewohnern und der
Wirtschaft des Landes Leid und Schaden zufügen.
Die bisherige Politik Israels hat die Situation nicht
wesentlich geändert. Die Sperren stoppten den Schmuggel und die
Waffenproduktion nicht. Erst letzte Nacht haben wir den Gazastreifen
angegriffen, nachdem eine Rakete abgefeuert wurde und die Bewohner wieder in
die Bunker mussten. Wir müssen die Richtung ändern.
Was sollen wir tun? Die kurze Antwort ist, dass wir
eine mehrjährige, große Massnahme genannt 'Wirtschaft im Austausch für Sicherheit' unternehmen müssen.
Dies ist eine realistischere Version dessen, was einst 'Rehabilitation in
Austausch gegen Entmilitarisierung' genannt wurde.
Der Zweck eines solchen Schrittes besteht darin, auf
beiden Seiten der Grenze Stabilität zu schaffen – in Sachen Sicherheit, Zivilbevölkerung,
Wirtschaft und Politik. Die internationale Gemeinschaft und die Bevölkerung von
Gaza müssen wissen, dass der Hamas-Terror die Barriere zwischen ihnen und einem
normalen Leben ist.
Darüber hinaus wird ein solcher Schritt Israel ermöglichen,
Ressourcen und Beiträge im wirklichen Kampf zu konzentrieren, angesichts des
iranischen Nuklearprogramms und des iranischen Versuchs, durch die Ausbreitung
von Terrorismus und Gewalt eine Regionalmacht zu werden.
Überraschenderweise wurde nie ein ernsthaftes Angebot
im Bereich Wirtschaft für Sicherheit in Gaza auf den Tisch gelegt; sicherlich
nicht offiziell und aus einer Gesamtbetrachtung der Situation der Palästinenser.
Viele Experten werden Ihnen sagen, dass ein solcher
Zug keine Umsetzbarkeit hat. Die Antwort lautet: Wir haben es nicht versucht.
Die einzigen beiden Alternativen, die seit langem auf dem Tisch liegen, sind
die Besetzung von Gaza oder die Fortsetzung endloser, wiederkehrender
Kampfkonflikten.
Das sind zwei schlechte Alternativen. Die Besetzung
von Gaza widerspricht unserem nationalen Interesse. Da haben wir nichts zu
suchen. Die Kampfrunden zermürben die IDF, Israels internationale Legitimität
und die Stärke und den Zusammenhalt der israelischen Gesellschaft.
So eine Realität können wir nicht akzeptieren. Es ist
die Pflicht der israelischen Regierung, vor ihre Bürger zu treten und zu deklarieren,
dass wir jeden Stein umgedreht haben, um die Sache Gaza zu bewältigen.
Es soll sofort gesagt werden: Dies ist kein Vorschlag,
mit der Hamas zu verhandeln. Israel spricht nicht mit Terrororganisationen, die
es zerstören wollen.
Für Israel ist die Vertretung der Palästinenser nicht
die Hamas, sondern die Palästinensische Autonomiebehörde. Israel wird keine
Preise an eine radikale Terrororganisation vergeben und die PA schwächen, die
regelmäßig mit uns zusammenarbeitet.
Die Förderung einer wirtschaftlichen Formel für
Sicherheit wird die Hamas zwingen, den Bewohnern von Gaza zu erklären, warum
sie in Armut, Entbehrung, Gewalt und hoher Arbeitslosigkeit leben - ohne
Hoffnung.
Den Gazabewohnern muss in jeder Art und Weise und auf
jeder Bühne erzählt werden – die Hamas führt Euch in den Untergang. Niemand
wird kommen, um echtes Geld zu investieren, und niemand wird versuchen, eine
Wirtschaft aufzubauen, in einem Ort von dem die Hamas feuert und den Israel
regelmäßig bombardiert.
Es ist an der Zeit, den Druck auf die Hamas zu
übertragen, und die Menschen in Gaza dazu zu bringen, Druck auf die Hamas
auszuüben, weil sie verstehen, was sie durch den anhaltenden Terrorismus
verlieren und was sie gewinnen können, wenn er aufhört.
Heute existiert die absurde Situation, dass eine
islamische und antisemitische Terrororganisation israelische Bürger angreift
und die Welt Israel dafür verantwortlich macht. Es wird immer Israelhasser
geben, die uns für alles verantwortlich machen, aber ein positiver Vorschlag
wird die Situation verbessern.
Anstatt dass die Hamas ihre Interessen als radikale
Terrororganisation auf Kosten der Einwohner von Gaza fördert, werden wir einen
Plan zur Verbesserung der Lebensbedingungen in Gaza vorlegen, sollte die Hamas
ihre Tätigkeit als radikale Terrororganisation einstellen.
Natürlich ist dies ein langer Prozess. Es wird nicht Monate,
sondern Jahre dauern. Die Beweislast liegt bei der anderen Partei. Wenn die
Bewohner von Gaza Leben wollen, müssen sie von der Hamas verlangen, den Waffenstillstand
zu beachten, solange der Bau- und Wiederaufbauprozess läuft.
Es soll kein Missverständis geben: Israel verlangt von
niemandem, seine Bürger zu schützen. Nur Israel bietet Sicherheit für Israel.
Nur wir sind für die Bürger des 'Gaza-Umschlags' verantwortlich.
Genau aus diesem Grund ist es an der Zeit, den Prozess gegenüber Gaza in Gang
zu setzen.
Die Kraft der IDF erlaubt uns Handlungsfreiheit in
Gaza, aber ihre Stärke erlaubt uns auch politische Handlungsfreiheit: Die
Machtposition erlaubt uns, positive Schritte einzuleiten, anstatt zu sitzen und
auf die nächste Gewaltrunde zu warten.
Natürlich wird Israel seine Bemühungen im Bereich der
Gefangenen und Vermissten nicht für einen Moment aufgeben. Die Rückkehr der
Jungen sollte Teil jeder Massnahme der Sicherheit im Austausch für Wirtschaft
sein.
Der erste Vorschlag, den wir im Außenministerium
formuliert haben, bezieht sich auf zwei Phasen der Resolution:
Die erste Phase:
Ein verbesserter humanitärer Wiederaufbau von Gaza im
Austausch für einen koordinierten Kampf gegen die militärische Intensivierung
der Hamas. Ein solcher Wiederaufbau umfasst die Befriedigung der
grundlegendsten Lebensbedürfnisse.
Gaza erhält eine Sanierung des Stromsystems, einen
Gasanschluss, den Bau von Wasserentsalzungsanlagen, eine erhebliche
Verbesserung der Gesundheitsversorgung und die Sanierung der Wohn- und
Verkehrsinfrastruktur. Im Gegenzug wird sich die Hamas zu einer langfristigen Waffenruhe
verpflichten.
Die internationale Gemeinschaft wird Hebelwirkungen
gegen die Hamas einsetzen, um ihre Machtverstärkung zu verhindern. Sie wird
daran arbeiten, die Kontrolle gegen Schmuggel zu verschärfen, und ein wirtschaftlicher
Überwachungsmechanismus wird eingerichtet, um die Umlenkung von Ressourcen zur Machtverstärkung
der Hamas zu verhindern.
Ohne solche Aufsichtsmassnahmen werden wir und andere
Staaten nicht zustimmen, die erforderlichen Mittel in Gaza zu investieren.
Niemand auf der Welt hat ein Interesse daran, in Infrastruktur zu investieren
und dort aufzubauen, wo jederzeit erneute Kämpfe beginnen könnten.
Israel wird nicht bereit sein, in die Verbesserung der
Bedingungen in einem Gebiet zu investieren, von dem aus seine Bürger bedroht werden.
Vor allem, wenn es die Hamas stärkt, anstatt dass von ihr ein Preis verlangt
wird.
Aus diesem Grund wird der humanitäre
Rehabilitationsprozess in 'Meilensteinen' vordefiniert, denen jeweils ein
fester Zeitraum zugewiesen wird. Jede Verletzung durch die Hamas wird den
Prozess stoppen oder zurücksetzen.
Unsere erste Verpflichtung als Regierung besteht
darin, die Bürger Israels zu schützen. Wir sind entschlossen, energisch gegen
jeden großen und kleinen Terroranschlag aus Gaza vorzugehen und von jedem, der
eine solche Aktion initiiert, einen hohen Preis zu verlangen.
Die Sicherheitsformel während der ersten Phase ist
einfach - Premierminister Bennett hat sie bereits erklärt: Im Austausch für Ruhe sind
wir bereit, mehr denn je zu geben. Wenn der Frieden gebrochen wird, müssen
Hamas und die Organisationen wissen, dass die Reaktion stärker sein wird als
zuvor.
Selbst wenn der Terrorismus während der gesamten
ersten Phase aufhört, wird Israel weiterhin den 'Schalter' über die
Strom- und Wasserversorgung halten. Nur angesichts langfristiger Ruhe können
wir dem Gazastreifen volle Energieunabhängigkeit gewähren.
Die Palästinensische Autonomiebehörde wird Teil des Prozess
sein. Es wird wieder die aktive Behörde der Übergänge sein. Die Möglichkeit
einer Wiedereröffnung des Karni- Übergangs wird geprüft. Ägypten wird den
Grenzübergang Rafah weiterhin halten.
Hervorzuheben ist die entscheidende Bedeutung Ägyptens
für den gesamten Prozess. Dies wird nicht ohne die Unterstützung und
Beteiligung des ägyptischen Partners und ohne seine Fähigkeit zum Dialog mit
allen Parteien geschehen.
Wird die erste Phase des Rehabilitationsprozesses als
erfolgreich definiert, kann in die zweite Phase übergegangen werden, in der die
Palästinensische Autonomiebehörde bereits als zentrales Durchführungs- und
Kontrollorgan eingebunden und im Sicherheitsratsbeschluss verankert wird.
Die zweite Phase:
Ein geordneter Wirtschaftsplan für die Sicherheit wird
aufgestellt, der klarstellt, wie die Zukunft des Gazastreifens aussehen könnte,
wenn die Hamas die Bedingungen des Quartetts akzeptiert. In einem solchen Zustand
wird sich die Wirtschaft und das Leben in Gaza von Grund auf ändern.
Einwohner von Gaza und Mitglieder der internationalen
Gemeinschaft werden einen praktischen und umfassenden Plan erhalten, der
klarstellt, wie das Leben in Gaza aussehen wird, wenn die Machtverstärkung gestoppt,
die Ruhe aufrechterhalten und eine wirtschaftliche Formel im Austausch für
Sicherheit angewendet wird.
Im Rahmen der zweiten Phase wird das künstliche
Inselprojekt vor der Küste von Gaza gefördert, das den Bau eines Hafens
ermöglicht. Ein Transportprojekt zur Verbindung des Gazastreifens mit dem
Westjordanland wird gefördert.
Gefördert werden internationale Investitionen im
Gazastreifen und gemeinsame Wirtschaftsprojekte für Israel, Ägypten und die
Palästinensische Autonomiebehörde. Neben dem Erez-Übergang werden große
Industrie- und Beschäftigungsgebiete entstehen.
Koordinator der Investitionen ist die Versammlung der
Spender, der die Europäische Union und die USA sowie der Weltwährungsfonds und
die Weltbank angehören. Hinzu kommen die Golfstaaten, angeführt von den
Vereinigten Arabischen Emiraten.
In der zweiten Phase wird die Palästinensische
Autonomiebehörde die zentrale Behörde, die mit uns zusammenarbeiten wird, um
die verschiedenen Projekte zu fördern. Die Behörde wird die wirtschaftliche und
zivile Verwaltung des Gaza-Streifens übernehmen.
Der hier vorgelegte Vorschlag geht nicht auf die Zweistaatenlösung ein,
aber meine Position dazu ist bekannt: Israel muss sich für die Stärkung der
Palästinensischen Autonomiebehörde einsetzen und mit ihr verhandeln – mit dem
Ziel, die beiden Staaten zu trennen.
Die politischen Bedingungen – sowohl in Israel als auch in der
Palästinensischen Autonomiebehörde – erlauben keine Fortschritte auf der
aktuellen politischen Achse, aber in Gaza können und müssen wir jetzt schon handeln.
In einem breiten Kontext kann gesagt werden, dass der Beginn des Prozesses
in Gaza günstigere Bedingungen für zukünftige politische Verhandlungen schaffen
wird, wenn die Bedingungen erfüllt sind. Wir haben in der Vergangenheit
gesehen, dass Kämpfe in Gaza auch die Chancen auf eine Rückkehr an den
Verhandlungstisch beeinträchtigen.
Die Lösung, die ich hier vorschlage, ist nicht perfekt. Mir war es wichtig,
einen anderen Horizont zu präsentieren, bevor es wieder aufflammt, aber
perfekte Lösungen gibt es sowieso nicht. Es ist an der Zeit, uns im Umgang mit
unseren Beziehungen zu den Palästinensern vom Nullsummendenken zu befreien.
Ich sehe keinen Nachteil - keinen strukturierten Nachteil - in einem
solchen Angebot, solange unsere Absichten ernst ist. Wenn die Hamas-Führung in
Gaza die Ruhe einhält, wird sich die Realität in Gaza grundlegend ändern.
Wenn Sinwar und Haniya weiterhin gegen Israel vorgehen, werden wir, die
internationale Gemeinschaft und insbesondere die Menschen in Gaza wissen, dass
die Hamas sich weigert, das Leben in Gaza zu verbessern, weil sie nur daran
interessiert ist, Juden zu töten.
Ein solcher Schritt würde Israels Legitimität dramatisch stärken. Bei allem
Respekt der Romantik 'eines allein lebenden Volkes' leben wir in einer
vernetzten Welt. Die Qualität unserer internationalen Beziehungen ist ein
notwendiger Bestandteil der israelischen Stärke.
Die Palästinenser müssen entscheiden, ob auch sie Teil des globalen
Netzwerks des Fortschritts sind. Sowohl in Gazastreifen als auch im
Westjordanland haben die Palästinenser die Möglichkeit, sich der Stabilität,
dem Wohlstand und der Koexistenz anzuschließen, die die Normalisierungsabkommen
dem Nahen Osten bringen.
Die Bewohner von Gaza müssen sich entscheiden, ob sie eine dramatische
Verbesserung ihrer Lebensbedingungen wünschen oder Teil des Chaos, des
Extremismus und der Gewalt des radikalen Islam sein wollen.
Zum Schluss: Das hier Gesagte wird nicht im leeren Raum gesagt.
Premierminister Bennett und Verteidigungsminister Benny Gantz kennen die
Position und unterstützen das Prinzip dahinter.
Ich habe viele vorbereitende Gespräche mit Behörden in der arabischen und
westlichen Welt geführt, die die Idee prüfen; mit den ägyptischen Behörden und
führenden Politikern in den Golfstaaten, mit US-Außenminister Blinken, dem
russischen Außenminister Lavrov und der Europäischen Union.
Es gibt noch viel zu tun, wir sind noch am Reißbrett, aber wenn dieser
Vorschlag eine Umsetzbarkeit und breite Zustimmung hat, werde ich der Regierung
vorschlagen, ihn als offiziellen Standpunkt anzunehmen und in die Tat
umzusetzen.
Vielen Dank."
(Rede von Außenminister Yair Lapid, 12.09.2021)