Vor 75 Jahren – am 27. Januar 1945 – wurde das deutsche
Vernichtungslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Anlässlich des 75.
Jahrestages fand am 23. Januar das fünfte World Holocaust Forum mit dem Titel
„An den Holocaust erinnern, Antisemitismus bekämpfen“ in Yad Vashem, der
internationalen Holocaust-Gedenkstätte in Israel, statt.
Staatspräsidenten Reuven Rivlin sagte in seiner
Rede:
„Am 27. Januar 1945 wurden die Tore der Hölle geöffnet.
Auschwitz, die größte Maschinerie der menschlichen Zerstörung, die die
Geschichte jemals gesehen hat, wurde befreit. Das Grauen, das die Soldaten der Roten
Armee sahen, als sie das Lager betraten, war unfassbar.
Zinovy Tolkachev, jüdischer Künstler und Soldat der Roten
Armee, beschrieb, was er sah: ‚Die Erde
stöhnte ob der Stimmen der Opfer. Ich konnte mich nicht von dem verfluchten Stück
Land losreißen … und dem entsetzlichen menschlichen Moloch. Mein gesamter
Körper wurde von einem Schluchzen durchgeschüttelt.‘
Leichen übersäten den Boden des Lagers. Tausende kranke und
sterbende Menschen, einschließlich Kinder. Halbnackte Skelette – ‘Muselmänner‘,
‘die lebenden Toten’. Eine Million-Sechshunderttausend Menschen, fast eine
Million – und die Hälfte von ihnen Juden – wurden in Auschwitz ermordet.
Mit einem Bleistift auf Lagerpapier aus Auschwitz schrieb
Tolkachev wieder und wieder: ‚Damit ich mich erinnere. Damit ich nicht
vergesse. Damit ich mich erinnere. Damit ich nicht vergesse.‘
Wir stehen heute auch hier – Könige, Führungspersonen,
Regierungschefs – in Yad Vashem in Jerusalem, ‚damit wir uns erinnern. Damit
wir nicht vergessen.‘ Im Namen des jüdischen Volkes und als Präsident des
Staates Israel möchte ich Ihnen ganz herzlich für Ihr Kommen danken.
Vielen Dank für Ihre Solidarität mit dem jüdischen
Volk.
Vielen Dank für Ihre Verpflichtung, an den Holocaust zu
erinnern.
Vielen Dank für Ihre Verpflichtung gegenüber den Bürgern der
Welt, die an Freiheit und menschliche Würde glauben.
Ende November 1943 trafen sich die drei alliierten
Staatschefs, die den Kampf gegen Deutschland und die Achsenmächte führten zum
ersten Mal in Teheran. Es handelte sich nicht um ein Treffen unter Freunden. Es
handelte sich um ein Treffen, bei dem die Staatschefs sich gegenüber
misstrauisch eingestellt waren, die durch gravierende Unterschiede geteilt
waren. Aber die drei Staatschefs trafen eine Wahl. Sie wählten, über ihren
Verschiedenheiten zu stehen und sich auf ein gemeinsames Ziel zu konzentrieren
– den Sieg über Faschismus, den Sieg über Nazi-Deutschland. Es war eine Allianz
für Menschlichkeit.
Für Millionen meines Volkes, die im Holocaust ermordet wurden
und für die Millionen von Opfern des Zweiten Weltkriegs, kam die Wahl der
Alliierten zu spät. Aber sie schafften es, sich dem Nazi-Monster entgegen zu
stellen und zu sagen – es reicht. Letzten Endes gewann Freiheit, menschliche
Würde und die Allianz der Menschlichkeit den Zweiten Weltkrieg.
Das darf nicht als selbstverständlich angesehen
werden.
Was wäre in einer Welt passiert, in der die Alliierten nicht
vereint gewesen wären? In einer Welt, die von Rassentheorien dominiert gewesen
wäre? Man mag es sich kaum vorstellen.
Heute hat die internationale Gemeinschaft die Möglichkeit,
sich zu vereinen, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten, auf der Basis
geteilter Werte angesichts Antisemitismus und Rassismus, radikaler Kräfte, die
Chaos und Zerstörung, Hass und Angst vor menschlicher Würde und Menschlichkeit
selbst verbreiten.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs begann das Zeitalter der
Verantwortung. Im Schatten des Traumas, der Angst,
der Zerstörung durch den Holocaust und den Grauen des Krieges, entschlossen sich
die Länder der Welt, verantwortlich zu handeln.
Seitdem haben Demokratien unglaubliche Fortschritte für die
Menschheit gemacht. Befreiung. Bildung. Kontrolle über tödliche Krankheiten.
Wir dürfen unsere Demokratien nicht als selbstverständlich ansehen. Unsere
Erinnerungen an die Zerstörung und den Ruin des Holocaust und dem Zweiten
Weltkrieg verblassen. Aber wir müssen uns
erinnern.
Die Staatschefs von heute müssen auch Verantwortung
zeigen.
Werte Gäste, das jüdische Volk ist ein Volk, welches
erinnert. Wir erinnern, nicht etwa aus einer Vorstellung der Überlegenheit und
auch nicht, um in den Erinnerungen des
Grauens zu schwelgen oder im Sinne einer
Rechtfertigung. Wir erinnern, weil wir wissen, was es bedeutet, sich nicht zu
erinnern, wenn Geschichte sich wiederholt. Es wurden nicht nur Menschen in den
Krematorien von Auschwitz vernichtet. Menschliche Würde, Freiheit und
Solidarität löste sich auch im Rauch des Krematoriums auf.
Nazi-Deutschland versuchte, das jüdische Volk zu zerstören
in einem Akt der Befreiung der Welt von den Juden. Aber die Rassentheorien der
Nazis kosteten über 66 Millionen Menschen das Leben. Lassen sie mich das
klarstellen – Antisemitismus hält nicht bei den Juden an. Antisemitismus und
Rassismus sind eine bösartige Erkrankung, die Gesellschaften zerstört und aus
deren Mitte auseinanderreist, und keine Gesellschaft und keine Demokratie ist
dagegen immun.
Werte Gäste, der Staat Israel ist keine Entschädigung für
den Holocaust. Es ist unser Zuhause und unsere Heimat. Es ist, von wo wir
gekommen sind und wohin wir nach 2000 Jahren des Exils zurückgekehrt sind.
Israel ist eine starke Demokratie und ein stolzes Mitglied in der Familie von
Nationen. Wir sind kein Volk, das auf die Erlösung wartet, sondern ein Staat,
der nach Partnerschaft sucht – der Partnerschaft fordert.
Volle Partnerschaft im Kampf gegen Rassismus und dem
alten-neuen Antisemitismus, der heutzutage in erschreckender Art ausbricht. Es
versteckt sich hinter Überlegenheit, nationaler Reinheit und Xenophobie, welche
sich in die Herzen der Führung bohrt und den schrecklichen Preis menschlicher
Leben nimmt.
Antisemitismus ist eine chronische Krankheit. Sie kommt von
links und rechts, sie nimmt neue Formen an und verwirft andere im Laufe der
Geschichte. Antisemitismus hat sich nicht verändert. Wir sind es, die sich
verändert haben.
Der Staat Israel ist kein Opfer. Wir werden uns immer durch
uns selbst verteidigen und der Staat des jüdischen Volkes wird sich immer für
die Sicherheit und die Verteidigung der jüdischen Gemeinden in der Welt
einsetzen. Der Staat Israel ist ein unteilbarer Teil der internationalen
Gemeinschaft, welche zusammen für menschlichen und wissenschaftlichen
Fortschritt, für die Stärkung demokratischer Werte in der Welt, gegen
Terrorismus und Zerstörung arbeitet…“
(Staatspräsident Reuven Rivlin, 23.01.2020)