Staatspräsident
Reuven Rivlin hielt gestern (29.01.) eine Rede vor dem Bundestag
anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers
Auschwitz. Er begann seine Rede mit einem alten jüdischen Gebet,
Yizkor,
dessen ursprüngliche Version in Deutschland vor ungefähr 1000 Jahren
geschrieben wurde. Weiterhin sprach er über Israels Erfahrungen mit
Holocaust-Überlebenden und der Verantwortung Deutschlands.
„… Die
Verantwortung, die Deutschland trägt, ist schwer. Sie ist besonders schwer,
weil Europa, wie auch andere Teile der Welt, sich heutzutage ändert. Europa
wird heute wieder vom Geist der Vergangenheit verfolgt. Konzepte von
Überlegenheit, nationaler Reinheit, Xenophobie, hässlicher und offener
Antisemitismus treiben über ganz Europa. Von rechts bis links, Antisemitismus
durchdringt das Herz Europas.
Lassen Sie mich
das klarstellen: wir befinden uns nicht in den 30ern. Wir befinden uns nicht am
Rande einer zweiten Shoah. Aber wir können den alten-neuen Antisemitismus, den
Rassismus und die Xenophobie, die sich wieder einmal gegen Juden, Moslems und
Ausländer richten, auch nicht ignorieren.
Mir ist
bewusst, dass einige Angriffe von Moslems verübt werden und ich nehme es nicht
auf die leichte Schulter. Aber dennoch ist es kein Zufall, dass ein
Rechtsextremist an Yom Kippur versuchte, die Synagoge in Halle anzugreifen, und
als das nicht klappte, sich gegen einen Laden richtete, der Halal-Essen
verkauft. Wir schätzten Ihren Besuch, Bundespräsident Steinmeier, am Tag nach
dem Ereignis sehr.
Es ist wahr,
dass sich die rassistische nationalistische Bewegung, die Grenzen und
Kontinente überquert, zunächst gegen Juden richtet. Aber manchmal verstecken
politische Parteien mit antisemitischen Wurzeln ihren Hass auf Juden, während
sie ihren Hass auf Moslems öffentlich erklären.
Ich und das
israelische Volk schätzen die Bemühungen der deutschen Regierung seit Adenauer,
Antisemitismus und Rassismus auszurotten. Deutsche Regierungen haben in das
Gedenken und die Erinnerungspolitik, in den Kampf gegen Holocaust-Leugnung und
in die Bildung der nächsten Generationen investiert. Weiterhin unterstützt die
deutsche Regierung die Restauration von jüdischen Friedhöfen in Osteuropa. Wir
bewundern diesen Einsatz.
Gleichzeitig
teilen wir Ihre Sorge, dass es eine Kluft gibt. Es gibt eine Kluft zwischen dem
Einsatz und der Hartnäckigkeit, der Tiefe und der unglaublichen chronischen Art
des Antisemitismus. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg
glaubte ich, dass nach dem, was passierte, menschliches Verständnis von Tod und
Zerstörung, die durch Hass entstanden war, genug sein würde, um Antisemitismus
für immer aus der Welt auszurotten. Heute verstehe ich bedauerlicherweise, dass
dem nicht so ist. Sogar ich, ein Sohn des jüdischen Volkes, habe kein Rezept
zur Auslöschung von Antisemitismus.
Und dennoch bin
ich hier, um Ihnen zu sagen, dass der Staat Israel und Deutschland wahre
Partner sind in der unverzichtbaren, moralischen und ja, vielleicht endlosen
Position gegen Antisemitismus und Xenophobie, die zur Zerstörung der
Menschlichkeit vor 75 Jahren führte.
Das jüdische
Volk ist ein Volk, welches erinnert. Wir erinnern, nicht etwa aus einer
Vorstellung der Überlegenheit und auch nicht, um in den Erinnerungen
des Grauens zu schwelgen oder im Sinne einer Rechtfertigung. Wir
erinnern, weil wir wissen, dass sich die Geschichte wiederholt, wenn wir nicht
daran erinnern. Es wurden nicht nur Juden, Roma und Sinti, Polen und Tausende
anderer Menschen in den Krematorien von Auschwitz vernichtet. Menschliche
Würde, Freiheit und Solidarität löste sich auch im Rauch des Krematoriums
auf. Und das ist die zentrale und schreiende
Botschaft der Shoah – dass Shoah – Zerstörung – geschehen kann.
Wir bewundern
die Bemühungen Deutschlands und seine Rolle im internationalen Kampf gegen
Antisemitismus und Rassismus. Gleichzeitig verstehen wir heute, dass es kein
Krieg ist, der ein für alle Mal gewonnen werden kann. Es ist ein Krieg, für den
wir uns Generation für Generation einschreiben müssen, um das Unkraut bei den
Wurzeln zu packen, wo auch immer es wächst, Tag für Tag. Wir dürfen nicht
nachgeben. Deutschland darf nicht scheitern.
Deutschland,
der Ort, an dem die ‚Endlösung‘ geplant wurde, hat die Verantwortung auf sich
genommen, national-liberale Werte zu verteidigen, wenn sie durch Wellen des
Populismus erodieren. Wenn Deutschland daran scheitert, ein Desaster zu
verhindern, werden wahrscheinlich auch andere woanders scheitern. Wenn Juden an
dem Ort, an dem der Holocaust geboren wurde, nicht frei leben können, können
sie auch an anderen Orten in Europa nicht frei von Angst leben.
Ich sage Ihnen,
Mitglieder dieses Hauses, unsere Freunde – Europa und die ganze Welt richten
ihre Augen auf Deutschland. Die Verantwortung ist Ihre. Ich sage das nicht, um
zu predigen, sondern aus dem Sinne einer Partnerschaft, Sorge, Respekt und
Bewunderung für Ihre Bemühungen. Ich weiß, dass Sie vor vielen
Herausforderungen stehen. Zusammen mit Verbündeten trägt Deutschland die
Führung der Europäischen Union, die globale Führung im Kampf gegen Klimawandel
und die Pflicht, sich mit der internationale Flüchtlings- und Migrationskrise
auseinanderzusetzen.
Ich glaube und wünsche, dass das deutsche Volk und
seine Regierung in den nächsten Jahrzehnten, Hass und Hetze
weiter abwehren werden und ein Beispiel für diejenigen darstellen wird, welche
sich der Geschichte, Verantwortung, Mäßigung und Toleranz verschrieben haben.
Ich möchte meiner Unterstützung für Deutschlands Führung, ihrem Mut und ihrer
Entschlossenheit sowie ihrer lauten und klaren Stimme, Ausdruck verleihen. Auch
wenn wir nicht dafür sorgen können, dass Antisemitismus und Rassismus für immer
verschwinden, so können wir doch dafür sorgen, dass sie uns nie wieder
besiegen.
Sehr geehrte
Damen und Herren, es gibt Unstimmigkeiten zwischen uns. Eine tiefe
Unstimmigkeit zwischen wahren Freunden in Bezug auf den Versuch, eine
Vereinbarung mit dem iranischen Regime zu erlangen. Ich weiß, es gibt jene, die
behaupten, dass wir zwischen der iranischen Rhetorik und seiner wahren Politik
unterscheiden müssen. Und dennoch, ausgerechnet an diesem Tage, möchte ich
Ihnen sagen: wir haben nicht das Privileg, weder die iranische Politik noch
seine Rhetorik zu ignorieren.
Wir wissen alle
genau, wie gefährlich Rhetorik ist, die Hass auf Israel und dessen Zerstörung
predigt. Wir kennen diese Kraft.
Wir befinden
uns nicht im Krieg mit dem iranischen Volk, das Gegenteil ist der Fall. Es
existieren warmherzige und bedeutende
Beziehungen zwischen den beiden Völkern. Israel ist das Zuhause einer großen
Gemeinschaft iranischer Juden, einer Gemeinschaft, die stolz auf ihr Erbe und
ihre Kultur ist. Aber zu unserem Bedauern ist die Bedrohung, die heute vom
iranischen Regime ausgeht, keine
theoretische Frage. Für uns ist es existentiell. Wir sind nicht diejenigen, die
das so definieren, sondern das iranische Regime, welches die Zerstörung des
Staates Israel zu seinem politisch-diplomatischen Ziel erklärt.
Wir befinden
uns nicht im Jahre 1938, aber wir werden unsere Augen nicht verschließen, wenn
Iran Terrororganisationen an unseren Grenzen Hunderte Flugzeuge und LKWs gibt,
die mit gefährlichen Waffen, einschließlich Präzisionsraketen, gefüllt sind,
die ein Ziel haben – Tel Aviv und Jerusalem und andere israelische Städte zu
treffen.
Ich hoffe, dass
dieses Haus nicht zwischen dem militärischen und politischen Flügel der
Hisbollah differenziert, sondern auch den politischen Flügel zu einer
Terrororganisation erklärt und die Hisbollah außerhalb des Gesetzes stellen
wird. Ich rufe die deutsche Regierung auf, diese wichtige Forderung anzunehmen.
Der Staat
Israel weiß, wie er sich gegen das iranische Regime und seine Handlanger
schützen kann und wird auch nicht zögern, das zu tun. Aber ich bin der Meinung,
dass ein Regime, dessen Ziel die Zerstörung des Staates Israel in Worten und
Taten ist, ein Regime, das seine politische Vision erreicht durch Terror, Hass,
Verlust und Zerstörung, durch die Ermordung unschuldiger Zivilisten in der
ganzen Welt, ein Regime wie dieses stellt eine Gefahr für den Frieden in der
ganzen Welt dar. Angesichts einer solchen politischen Vision und eines solchen
Regimes gibt es nur eine Möglichkeit: wir müssen es isolieren und verurteilen
bis seine mörderischen Bestrebungen besiegt sind.
Die Konflikte
in Nahen Osten erscheinen manchmal als besonders komplex. Der
israelisch-palästinensische Konflikt ist schon seit langem zu einer Tragödie
geworden. Doch so wie auch andere globale Konflikte gelöst wurden, bin ich
davon überzeugt, dass auch dieser Konflikt gelöst werden kann.
Gestern in
Washington haben wir Momente erlebt, die große Hoffnung bringen könnten. Nach
langen Jahren diplomatischen Stillstands hat Präsident Trump – ein mutiger
Freund des Staates Israel – einen Plan präsentiert, der zwei Völkern
ermöglichen könnte, Kanäle des Dialogs zu erneuern und Fortschritte in Richtung
auf eine gemeinsame Zukunft zu machen.
Es handelt sich
um keine einfache Angelegenheit und beide Seiten müssen sich ausführlich mit
dem Plan auseinandersetzen. Es handelt sich um einen Plan, der tiefe,
schwierige und komplexe Zugeständnisse von beiden Seiten fordert, aber wir dürfen
nicht aufgeben. Jene, die aufgeben, geben die Chance auf. Und ich weigere mich,
aufzugeben.
Die Grundlage
für eine jede Lösung muss eine tiefe Wertschätzung für menschliches Leben und
der Glaube sein, dass ‚auf der anderen Seite‘ Menschen leben, die leben wollen,
so wie wir auch. Jede Seite hat ihre
Wahrheit, ihre Ängste und ihre Wahrheiten. Trotzdem, trotz der Schwierigkeit,
müssen wir uns kreative Lösungen überlegen, die unsere Sicherheit und
Stabilität stärken, um beiden Seiten Wohlstand und Wachstum zu ermöglichen. Und
ich hoffe, dass dieser Plan unter Berücksichtigung dieser Prinzipien umgesetzt
wird und zu einer besseren Realität für uns alle führen wird.
Die Stärke des
Staates Israel macht uns, aus der Perspektive vieler in der Welt, zu Goliath
und die Palästinenser zu David. Wir sind nicht David und sie sind nicht
Goliath. Wir sind nicht Goliath und sie sind nicht David. Israels Stärke und
Macht im Laufe der Jahre war und ist der Schlüssel zum Frieden, kein Hindernis
zum Frieden. So war es mit Ägypten, so war es mit Jordanien.
Es ist wahr,
dass die Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern nicht symmetrisch
sind, aber unsere Kapazitäten, eine politische und diplomatische Lösung zu
finden, hängt von den Fähigkeiten beider Seiten ab, sich gegenseitig zu trauen.
Wir müssen Vertrauen zwischen uns aufbauen. Die Zukunft des Nahen Ostens und
die Integration Israels in die Region hängt vom Vertrauensaufbau ab.”
(Amt des
Staatspräsidenten, 29.01.2020)