Rede von Staatspräsident Rivlin im Bundestag am 29.01.2020

Rede von Staatspräsident Rivlin im Bundestag

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    Staatspräsident Rivlin im Bundestag Staatspräsident Rivlin im Bundestag copyright: GPO/Amos Ben Gershom
     
     
    ​Staatspräsident Reuven Rivlin hielt gestern (29.01.) eine Rede vor dem Bundestag anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Er begann seine Rede mit einem alten jüdischen Gebet, Yizkor, dessen ursprüngliche Version in Deutschland vor ungefähr 1000 Jahren geschrieben wurde. Weiterhin sprach er über Israels Erfahrungen mit Holocaust-Überlebenden und der Verantwortung Deutschlands. 

    „… Die Verantwortung, die Deutschland trägt, ist schwer. Sie ist besonders schwer, weil Europa, wie auch andere Teile der Welt, sich heutzutage ändert. Europa wird heute wieder vom Geist der Vergangenheit verfolgt. Konzepte von Überlegenheit, nationaler Reinheit, Xenophobie, hässlicher und offener Antisemitismus treiben über ganz Europa. Von rechts bis links, Antisemitismus durchdringt das Herz Europas.  

    Lassen Sie mich das klarstellen: wir befinden uns nicht in den 30ern. Wir befinden uns nicht am Rande einer zweiten Shoah. Aber wir können den alten-neuen Antisemitismus, den Rassismus und die Xenophobie, die sich wieder einmal gegen Juden, Moslems und Ausländer richten, auch nicht ignorieren.

    Mir ist bewusst, dass einige Angriffe von Moslems verübt werden und ich nehme es nicht auf die leichte Schulter. Aber dennoch ist es kein Zufall, dass ein Rechtsextremist an Yom Kippur versuchte, die Synagoge in Halle anzugreifen, und als das nicht klappte, sich gegen einen Laden richtete, der Halal-Essen verkauft. Wir schätzten Ihren Besuch, Bundespräsident Steinmeier, am Tag nach dem Ereignis sehr.

    Es ist wahr, dass sich die rassistische nationalistische Bewegung, die Grenzen und Kontinente überquert, zunächst gegen Juden richtet. Aber manchmal verstecken politische Parteien mit antisemitischen Wurzeln ihren Hass auf Juden, während sie ihren Hass auf Moslems öffentlich erklären. 

    Ich und das israelische Volk schätzen die Bemühungen der deutschen Regierung seit Adenauer, Antisemitismus und Rassismus auszurotten. Deutsche Regierungen haben in das Gedenken und die Erinnerungspolitik, in den Kampf gegen Holocaust-Leugnung und in die Bildung der nächsten Generationen investiert. Weiterhin unterstützt die deutsche Regierung die Restauration von jüdischen Friedhöfen in Osteuropa. Wir bewundern diesen Einsatz.

    Gleichzeitig teilen wir Ihre Sorge, dass es eine Kluft gibt. Es gibt eine Kluft zwischen dem Einsatz und der Hartnäckigkeit, der Tiefe und der unglaublichen chronischen Art des Antisemitismus. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg glaubte ich, dass nach dem, was passierte, menschliches Verständnis von Tod und Zerstörung, die durch Hass entstanden war, genug sein würde, um Antisemitismus für immer aus der Welt auszurotten. Heute verstehe ich bedauerlicherweise, dass dem nicht so ist. Sogar ich, ein Sohn des jüdischen Volkes, habe kein Rezept zur Auslöschung von Antisemitismus.

    Und dennoch bin ich hier, um Ihnen zu sagen, dass der Staat Israel und Deutschland wahre Partner sind in der unverzichtbaren, moralischen und ja, vielleicht endlosen Position gegen Antisemitismus und Xenophobie, die zur Zerstörung der Menschlichkeit vor 75 Jahren führte.

    Das jüdische Volk ist ein Volk, welches erinnert. Wir erinnern, nicht etwa aus einer Vorstellung der Überlegenheit und auch nicht, um in den Erinnerungen des Grauens zu schwelgen oder im Sinne einer Rechtfertigung. Wir erinnern, weil wir wissen, dass sich die Geschichte wiederholt, wenn wir nicht daran erinnern. Es wurden nicht nur Juden, Roma und Sinti, Polen und Tausende anderer Menschen in den Krematorien von Auschwitz vernichtet. Menschliche Würde, Freiheit und Solidarität löste sich auch im Rauch des Krematoriums auf. Und das ist die zentrale und schreiende Botschaft der Shoah – dass Shoah – Zerstörung – geschehen kann.

    Wir bewundern die Bemühungen Deutschlands und seine Rolle im internationalen Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus. Gleichzeitig verstehen wir heute, dass es kein Krieg ist, der ein für alle Mal gewonnen werden kann. Es ist ein Krieg, für den wir uns Generation für Generation einschreiben müssen, um das Unkraut bei den Wurzeln zu packen, wo auch immer es wächst, Tag für Tag. Wir dürfen nicht nachgeben. Deutschland darf nicht scheitern.

    Deutschland, der Ort, an dem die ‚Endlösung‘ geplant wurde, hat die Verantwortung auf sich genommen, national-liberale Werte zu verteidigen, wenn sie durch Wellen des Populismus erodieren. Wenn Deutschland daran scheitert, ein Desaster zu verhindern, werden wahrscheinlich auch andere woanders scheitern. Wenn Juden an dem Ort, an dem der Holocaust geboren wurde, nicht frei leben können, können sie auch an anderen Orten in Europa nicht frei von Angst leben.

    Ich sage Ihnen, Mitglieder dieses Hauses, unsere Freunde – Europa und die ganze Welt richten ihre Augen auf Deutschland. Die Verantwortung ist Ihre. Ich sage das nicht, um zu predigen, sondern aus dem Sinne einer Partnerschaft, Sorge, Respekt und Bewunderung für Ihre Bemühungen. Ich weiß, dass Sie vor vielen Herausforderungen stehen. Zusammen mit Verbündeten trägt Deutschland die Führung der Europäischen Union, die globale Führung im Kampf gegen Klimawandel und die Pflicht, sich mit der internationale Flüchtlings- und Migrationskrise auseinanderzusetzen.

    Ich glaube und wünsche, dass das deutsche Volk und seine Regierung in den nächsten Jahrzehnten, Hass und Hetze weiter abwehren werden und ein Beispiel für diejenigen darstellen wird, welche sich der Geschichte, Verantwortung, Mäßigung und Toleranz verschrieben haben. Ich möchte meiner Unterstützung für Deutschlands Führung, ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit sowie ihrer lauten und klaren Stimme, Ausdruck verleihen. Auch wenn wir nicht dafür sorgen können, dass Antisemitismus und Rassismus für immer verschwinden, so können wir doch dafür sorgen, dass sie uns nie wieder besiegen.

    Sehr geehrte Damen und Herren, es gibt Unstimmigkeiten zwischen uns. Eine tiefe Unstimmigkeit zwischen wahren Freunden in Bezug auf den Versuch, eine Vereinbarung mit dem iranischen Regime zu erlangen. Ich weiß, es gibt jene, die behaupten, dass wir zwischen der iranischen Rhetorik und seiner wahren Politik unterscheiden müssen. Und dennoch, ausgerechnet an diesem Tage, möchte ich Ihnen sagen: wir haben nicht das Privileg, weder die iranische Politik noch seine Rhetorik zu ignorieren.

    Wir wissen alle genau, wie gefährlich Rhetorik ist, die Hass auf Israel und dessen Zerstörung predigt. Wir kennen diese Kraft.

    Wir befinden uns nicht im Krieg mit dem iranischen Volk, das Gegenteil ist der Fall. Es existieren warmherzige und bedeutende Beziehungen zwischen den beiden Völkern. Israel ist das Zuhause einer großen Gemeinschaft iranischer Juden, einer Gemeinschaft, die stolz auf ihr Erbe und ihre Kultur ist. Aber zu unserem Bedauern ist die Bedrohung, die heute vom iranischen Regime ausgeht, keine theoretische Frage. Für uns ist es existentiell. Wir sind nicht diejenigen, die das so definieren, sondern das iranische Regime, welches die Zerstörung des Staates Israel zu seinem politisch-diplomatischen Ziel erklärt.

    Wir befinden uns nicht im Jahre 1938, aber wir werden unsere Augen nicht verschließen, wenn Iran Terrororganisationen an unseren Grenzen Hunderte Flugzeuge und LKWs gibt, die mit gefährlichen Waffen, einschließlich Präzisionsraketen, gefüllt sind, die ein Ziel haben – Tel Aviv und Jerusalem und andere israelische Städte zu treffen.

    Ich hoffe, dass dieses Haus nicht zwischen dem militärischen und politischen Flügel der Hisbollah differenziert, sondern auch den politischen Flügel zu einer Terrororganisation erklärt und die Hisbollah außerhalb des Gesetzes stellen wird. Ich rufe die deutsche Regierung auf, diese wichtige Forderung anzunehmen.

    Der Staat Israel weiß, wie er sich gegen das iranische Regime und seine Handlanger schützen kann und wird auch nicht zögern, das zu tun. Aber ich bin der Meinung, dass ein Regime, dessen Ziel die Zerstörung des Staates Israel in Worten und Taten ist, ein Regime, das seine politische Vision erreicht durch Terror, Hass, Verlust und Zerstörung, durch die Ermordung unschuldiger Zivilisten in der ganzen Welt, ein Regime wie dieses stellt eine Gefahr für den Frieden in der ganzen Welt dar. Angesichts einer solchen politischen Vision und eines solchen Regimes gibt es nur eine Möglichkeit: wir müssen es isolieren und verurteilen bis seine mörderischen Bestrebungen besiegt sind.

    Die Konflikte in Nahen Osten erscheinen manchmal als besonders komplex. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist schon seit langem zu einer Tragödie geworden. Doch so wie auch andere globale Konflikte gelöst wurden, bin ich davon überzeugt, dass auch dieser Konflikt gelöst werden kann.

    Gestern in Washington haben wir Momente erlebt, die große Hoffnung bringen könnten. Nach langen Jahren diplomatischen Stillstands hat Präsident Trump – ein mutiger Freund des Staates Israel – einen Plan präsentiert, der zwei Völkern ermöglichen könnte, Kanäle des Dialogs zu erneuern und Fortschritte in Richtung auf eine gemeinsame Zukunft zu machen.

    Es handelt sich um keine einfache Angelegenheit und beide Seiten müssen sich ausführlich mit dem Plan auseinandersetzen. Es handelt sich um einen Plan, der tiefe, schwierige und komplexe Zugeständnisse von beiden Seiten fordert, aber wir dürfen nicht aufgeben. Jene, die aufgeben, geben die Chance auf. Und ich weigere mich, aufzugeben.

    Die Grundlage für eine jede Lösung muss eine tiefe Wertschätzung für menschliches Leben und der Glaube sein, dass ‚auf der anderen Seite‘ Menschen leben, die leben wollen, so wie wir auch. Jede Seite hat ihre Wahrheit, ihre Ängste und ihre Wahrheiten. Trotzdem, trotz der Schwierigkeit, müssen wir uns kreative Lösungen überlegen, die unsere Sicherheit und Stabilität stärken, um beiden Seiten Wohlstand und Wachstum zu ermöglichen. Und ich hoffe, dass dieser Plan unter Berücksichtigung dieser Prinzipien umgesetzt wird und zu einer besseren Realität für uns alle führen wird.

    Die Stärke des Staates Israel macht uns, aus der Perspektive vieler in der Welt, zu Goliath und die Palästinenser zu David. Wir sind nicht David und sie sind nicht Goliath. Wir sind nicht Goliath und sie sind nicht David. Israels Stärke und Macht im Laufe der Jahre war und ist der Schlüssel zum Frieden, kein Hindernis zum Frieden. So war es mit Ägypten, so war es mit Jordanien.

    Es ist wahr, dass die Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern nicht symmetrisch sind, aber unsere Kapazitäten, eine politische und diplomatische Lösung zu finden, hängt von den Fähigkeiten beider Seiten ab, sich gegenseitig zu trauen. Wir müssen Vertrauen zwischen uns aufbauen. Die Zukunft des Nahen Ostens und die Integration Israels in die Region hängt vom Vertrauensaufbau ab.”

     

    (Amt des Staatspräsidenten, 29.01.2020)