Anlässlich des
Internationalen Holocaust-Gedenktags sprach heute (27.01.22) in der
Gedenkstunde im Bundestag der Präsident der Knesset Mickey Levy als erster
Sprecher der Knesset überhaupt. Es folgt seine Rede:
„Sehr verehrte
Frau Bundestagspräsidentin, liebe Frau Bas,
sehr geehrter Herr
Bundespräsident Steinmeier
sehr geehrter Herr
Bundeskanzler Scholz,
liebe Frau Inge Auerbacher,
Überlebende des Holocaust
verehrte Ehrengäste,
sehr geehrte Besucherinnen
und Besucher,
sehr geehrte
Damen und Herren!
Zutiefst bewegt
und voller Demut stehe ich heute,
am
Internationalen Holocaust-Gedenktag vor Ihnen.
Am Tag des
Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.
Dabei bin ich
stolz, den einzigen jüdisch-demokratischen Staat der Welt,
den Staat Israel,
zu vertreten,
als Präsident der
Knesset, des israelischen Parlaments,
dem pulsierenden
Herz der israelischen Demokratie.
Zu Beginn meiner
Ausführungen möchte
ich mich bei der
Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Bas,
für die Einladung
bedanken,
am heutigen Tag Teil
dieser Gedenkzeremonie teilnehmen zu dürfen,
am Tag der
Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau,
am universellen
Gedenktag
an die
schrecklichsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte.
Ausgerechnet
hier,
in diesem
historischen Gebäude, dem deutschen Parlament,
kann man –
zumindest ein wenig –
die Fähigkeit von
Menschen erfassen,
die Demokratie zu
nutzen, um sie zu bezwingen.
Dies ist der Ort,
an dem die Menschheit die Grenzen des Bösen ausdehnte –
Ein Ort des
Werteverlusts –
An dem der
demokratische Rahmen zu rassistischer Tyrannei und Verfall wurde.
Deshalb lernen
wir ausgerechnet hier,
innerhalb der
Mauern dieses Hauses,
die wie steinerne,
stählerne stille Zeugen dastehen,
von Neuem,
wie zerbrechlich
die Demokratie ist.
Abermals werden
wir in die Pflicht genommen,
sie um jeden
Preis zu schützen.
Verehrte Damen
und Herren,
das Angedenken an
den Holocaust wach zu halten, ist eine schwierige Aufgabe.
Eine Aufgabe, die
auf den Schultern jeder Generation liegt.
Die Vermittlung
dieser abscheulichen Ereignisse der Vergangenheit
an kommende
Generationen.
Beim Gedenken an
den Holocaust werden oft große Zahlen genannt,
unfassbare
Statistiken.
Doch lässt sich
eine Zahl wie sechs Millionen überhaupt fassen?
Das Gesetz der
großen Zahlen
fügt eine weitere
Ebene von gewissener Distanz hinzu
Die sich an den
Opfern und Holocaust-Überlebenden versündigt,
weil sie das Maß
ihrer Menschlichkeit weiter reduziert.
Die sechs
Millionen Juden, die im Holocaust der Juden Europas ermordet wurden,
sind auch sechs
Millionen Geschichten.
Geschichten von
Leben, die hätten sein können,
Geschichten
derer, die nicht mehr sind.
Deshalb bin ich
voller Hochachtung
für Sie, Frau
Inge Auerbacher.
Sie haben eine
menschliche Stimme geschaffen, deutlich und ungewöhnlich
mit ihrer
Beschreibung und Darstellung der Erinnerung an den Holocaust.
Eine Stimme, die
die Kraft der menschlichen Geschichte zeigt –
die sich in
Herzen einfräst,
jeden Blickwinkel
durchdringend,
die Botschaft
übermittelnd.
Wie sonst ist es
fassbar,
dass ein Mädchen
nur sieben Jahre lang Mädchen sein konnte
bevor sie ins
Konzentrationslager deportiert wurde.
Es ist
unfassbar, dass man einem
Mädchen die Kindheit nimmt.
Die Familie.
Ihre menschliche
Würde.
Ich danke Ihnen,
Inge.
Danke, dass Sie
es geschafft haben, das Unfassbare
zu greifbarer
Erinnerung zu machen.
Danke, dass Sie
mit uns und der ganzen Welt Ihre persönliche, bewegende Geschichte teilen,
für die Vermittlung
des Holocaust an kommende Generationen.
Meine Damen und
Herren,
Die
Entscheidungen, die Inges Leben änderten,
wurden vor 80
Jahren und 7 Tagen gefällt,
nicht weit von
hier entfernt, in der Wannsee-Villa.
Als ich gestern
vor der prächtigen Villa stand, war ich sprachlos.
Ich spürte die
unglaubliche Diskrepanz zwischen den pastoralen Blumenbeeten,
dem am Horizont
glitzernden See – und der Grausamkeit, die an diesem Ort konstruiert wurde,
die
Vernichtungsmaschine des europäischen Judentums.
Die das Blut gefrieren
lassende Wannsee-Konferenz
sollte die
Bereiche koordinieren
für das
übergeordnete Ziel des Nazi-Regimes:
Jede Erinnerung
an das jüdische Volk auszulöschen.
Im voraus
geplante Vernichtung und Massenmorde,
auf
unerklärlichem Hass fussend,
die systematisch
durchgeführt wurden,
von einem Regime,
das demokratisch und rechtmäßig entstand.
80 Jahre und 7
Tage,
sind Nichts aus
historischer Sicht.
reichen nicht, um
alle Wunden zu heilen.
Viele tragen noch
Wunden, die nicht verheilt sind –
Für die es keine
Heilung gibt.
***
Verehrte Damen
und Herren,
Die Gedenkarbeit
verbindet unsere Völker,
das israelische
und deutsche.
Zusammen mit der
Erinnerung – sind wir vorangeschritten.
In diesen 80
Jahren und sieben Tagen ist es uns – unseren beiden Nationen – gelungen,
uns aus dem
historischen nationalen Trauma zu erheben und mit Mut und Entschlossenheit
etwas
Neues zu schaffen.
Zwei Nationen
zwischen Tod und Leben, entscheiden sich jeden Tag wieder für das Leben.
‚Ich habe euch
Leben und Tod,
Segen und Fluch
vorgelegt,
dass du das Leben
erwählst und am Leben bleibst.‘ (5. Moses Kapitel 30, Vers 19).
Zwei Nationen,
die eine außergewöhnliche Reise gemacht haben,
auf dem Weg zur
Versöhnung und Verfestigung von Beziehungen
geprägt von einer
mutigen Freundschaft.
Deutschland und
Israel haben eine Brücke gebaut
die die Kraft
und Bedeutung von Demokratie auf gleiche Weise sehen,
wie auch die Unerlässlichkiet,
gemeinsam an ihrer Bewahrung zu arbeiten
immer wieder, Tag
für Tag.
Wir haben die
Beziehungen zwischen den Völkern gefördert
in der Welt des
Schaffens und der Kultur.
Der Technologie
und Innovation.
In Handel,
Wissenschaft und Akademie.
Wir haben
Zusammenarbeit in Sicherheit und Nachrichtendiensten geschaffen.
Sowie wichtige
und tiefe Kooperation zwischen unseren beiden Parlamenten.
Deutschland hat
die Verantwortung für die Sicherheit Israels
uu einem der
Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik gemacht.
Deutschland stellt sich fest gegen Antisemitismus
auch in Form von
anti-Zionismus.
Deutschland beweist – Mal für Mal wieder –
in bilateralen
wie internationalen Foren –
seine
moralische und historische Verpflichtung
für die
Existenz und Sicherheit des Staates Israel –
Unsere
Beziehungen sind von Vertrauen, Aufrichtigkeit, und gegenseitiger Solidarität
geprägt,
die es uns
ermöglichen, uns zusammen
gemeinsamen
Herausforderungen zu stellen.
Auch solchen, vor
denen die gesamte Menschheit steht,
Herausforderungen
wie das Corona-Virus mit seinen Varianten
Herausforderungen
wie die unsere und die Zukunft der gesamten Welt bedrohende Klimakrise.
Für all das
möchte ich mich noch einmal bedanken
Bei der
vorherigen Bundeskanzlerin Angela Merkel,
die ihre lange
Amtszeit vor kurzem beendet hat.
Sie hat
Deutschlands Stärke gefestigt und sich
unermüdlich für
die Beziehungen zwischen unseren Ländern eingesetzt.
Verehrte Damen
und Herren, Herr Bundeskanzler Olaf Scholz,
der Staat Israel
verlässt sich auf Sie und weiß,
dass sie diese
langjährige Tradition fortsetzen werden
und dass wir
gemeinsam weiter an den Beziehungen
zwischen den
Staaten und Völkern arbeiten werden.
* * * *
Verehrte Damen
und Herren,
Soviel wir bereits
getan haben,
obliegt uns die
Pflicht,
immer noch mehr
zu tun.
Und letztlich
müssen wir auf die Erinnerung zurückgreifen,
um deren Weiterbestehen
zum Wohl der menschlichen Ewigkeit zu garantieren.
Doch neben der
Erinnerung –
Müssen wir aus
ihr heraus auch eine Vision schaffen.
Dabei müssen wir
die Hoffnung vor Augen haben
gemeinsam eine
Zukunft planen –
die sich auf
gemeinsame Werte und Träume stützt.
Wir müssen unsere
jungen Menschen zusammenbringen –
die Generation
der Enkel und Urenkel,
die dritte und
vierte Generation
und die
Generationen, die nach ihnen kommen werden.
Wir müssen Ihnen
den Zusammenschluss der Kräfte und Köpfe mit auf den Weg geben
zum Wohl einer
Zukunft voller Inspiration.
Eine Zukunft, die
auf den Werten der Demokratie, der Freiheit und Toleranz basiert,
Werte, die Israel
und Deutschland teilen.
In unseren jungen
Frauen und Männern das Gute im Menschen stärken
sie vor dem Hass
des Anderen warnen,
nur weil er oder
sie anders ist.
Die ewige
schlimme Warnung des Holocaust der europäischen Juden lautet:
Nie wieder!
Verehrte Damen
und Herren,
vor 80 Jahren und
sieben Tagen
wollte man das
jüdische Volk auslöschen.
Seitdem ist unser
Volk auferstanden. Wir haben einen unabhängigen Staat,
unsere
historische Heimat, den Staat Israel.
Heute wollen wir
uns erinnern,
wir werden ewig
erinnern!
Und gemeinsam
eine vielversprechende Zukunft bauen.
Kurz vor Schluss
möchte ich der
Verstorbenen gedenken, hier, an diesem Ort.
Dazu werde ich
einen Ausschnitt aus dem Kaddisch-Gebet lesen,
das jüdische
Gebet, zur Erhebung/Erhörung ihrer Seelen.
Ich werde das
Kaddisch aus einem jüdischen Gebetsbuch verlesen,
das ich mir
eigens für den heutigen Tag aus dem Holocaust-Museum Yad Vashem geliehen habe.
Ein Gebetbuch,
das einem jüdisch-deutschen Jungen bei seiner Bar Mitzvah diente.
Am 22. Oktober
1938, kurz vor dem November-Progrom 1938, auch als Kristiallnacht bekannt.
Kurz bevor das Leben,
das er hätte Leben sollen –
an der Realität
in Deutschland zerbarst.
Dieses Gebetbuch,
das – angesichts der Gräuel des Holocaust –
schweigend dastand,
ähnlich wie die
Wände aus Stein und Stahl dieses Hauses.
Ich möchte Sie
bitten, sich zum Verlesen des Gebets zu erheben.“