„Es ist
schwer, Lamiya Aji Bashar in die Augen zu sehen. Durch sie kann man die Hölle
sehen, die diese junge Jesidin durchlitten hat, ganz zu schweigen von ihrem
vernarbten Gesicht. Die Augen unserer Kurmanji-Übersetzerin füllen sich mit
Tränen, als sie aus dem kurdischen Dialekt ins Englische übersetzt, was ihre große
Nähe zur Geschichte eines Mädchens zeigt, das im
Alter von 15 Jahren vom Islamischen Staat gefangen genommen wurde. Aber das ist
noch nicht alles. Dieses seltene persönliche Treffen fand überraschenderweise
in der psychologischen Abteilung der zentralisraelischen Bar-Ilan-Universität statt. Aji Bashar ist das einzige Mitglied der irakischen Delegation, das sein Gesicht und seinen Namen
preisgeben kann. Das liegt daran, dass sie im Rahmen eines speziellen
Rehabilitationsprogramms für 1.100 Frauen und Kinder, die die Gefangenschaft
des Islamischen Staates überlebt haben, in Deutschland lebt.
Die meisten
der rund 15 Frauen in der Delegation sind Jesidinnen, einige von ihnen sind
auch Christinnen. Abgesehen von Aji Bashar werden sie nach einem speziellen
zweiwöchigen Kurs in den Irak zurückkehren, der für sie in Israel zur
Bewältigung komplexer posttraumatischer Belastungsstörungen entwickelt wurde –
ein Begriff, der für extreme Fälle anhaltender Traumata, wie Gefangenschaft und
schwerer Misshandlung verwendet wird. Alle Frauen sind in verschiedenen
Hilfsorganisationen tätig. Ihr Ziel ist es, einige der Werkzeuge zu nutzen, die
sie während ihres kurzen Trainings in Israel erworben haben, um anderen dabei
zu helfen, die tiefen emotionalen Wunden zu lindern, die durch die Besetzung
des Nordiraks durch den Islamischen Staat – insbesondere unter den Jesiden –
entstanden sind. Sie kommen aus verschiedenen Berufen: der Computer- und
Finanzbranche, der Lehre und der Medizin. Keine der Frauen hat eine Ausbildung
in Psychotherapie, aber aufgrund ihrer Arbeit in Hilfsorganisationen haben sie
zur Genüge von den Gräueltaten gehört und versuchen, anderen beim Gesundwerden
zu helfen.
‚Wir hatten
keine Wahl‘, sagt Dr. Mirza Dinnayi, eine jesidische Ärztin und soziale
Aktivistin, die in Deutschland lebt und die treibende Kraft hinter
verschiedenen Projekten ist, die Frauen und Kindern helfen, die die
Gefangennahme durch den Islamischen Staat überlebt hat. ‚Psychologische
Behandlung ist sehr ungewöhnlich im Irak, wie auch in anderen arabischen
Ländern. Es gibt ungefähr einen Psychologen oder Sozialarbeiter für 300.000
Menschen im Irak. Daher müssen wir nutzen, was wir haben.‘
Von den
500.000 Jesidinnen, die im Norden Iraks nahe der syrischen Grenze in der Stadt
Sinjar und anliegenden Dörfern lebten, flüchteten die meisten, nachdem die
Region vom Islamischen Staat im August 2014 übernommen wurde. Sie wurden in
improvisierten Lagern mit Zelten und keiner Infrastruktur untergebracht.
Über 6.500
Frauen und Kinder wurden vom Islamischen Staat gefangen genommen. Einige
konnten flüchten oder wurden befreit, als die Region im Jahre 2018 wieder von der
Organisation genommen wurde. Aber ungefähr 3.000 Menschen sind noch
verschwunden.
[…]
Seit drei
Jahren lebt Aji Bashar in Deutschland, in der Nähe von Stuttgart, als Teil des
jesidischen Rehabilitationsprogramms. Sie durchlief eine Reihe von Behandlungen
und Operationen […]. ‚Ich denke, wir müssen unsere Geschichte erzählen‘, sagt
sie. ‚Ich möchte nicht, dass solche Dinge anderen passieren.‘
2016 bekam Aji Bashar den Sakharov
Preis des europäischen Parlaments für ihre Menschenrechtsarbeit. Aber der Preis
des Westens kann das schwere Trauma, das Aji Bashar und viele wie sie tragen, nicht heilen – vor allem
nicht jener, die noch immer im nördlichen Irak sind, wo sie kein Unterstützungssystem
und psychologischen Hilfe bekommen.
‚Wir begannen einen Monat nach der Invasion des Islamischen
Staates, im September 2014, zu arbeiten‘, sagt Co-Geschäftsführer von IsrAID, Yotam
Polizer, ‚und wir verstanden sofort, dass wir am meisten im Bereich der
Trauma-Behandlung und psychologischen Hilfe helfen können, wofür die größte
Notwendigkeit bestand.‘
In
den letzten Jahren hat die Organisation einige 20 israelische Experten […]
geschickt, um diese psychologischen Wunden zu behandeln. […]
[In
einem gemeinsamen Unternehmen mit Experten], wurden 15 junge Frauen aus dem
Irak zur Ausbildung nach Israel gebracht. Die halbgeheime Operation erforderte komplexe
Vorbereitungen, einschließlich detaillierter Informationen des
Außenministeriums über die einzelnen Frauen, bereits Monate im Voraus. ‚Wir
haben anderthalb Jahre daran gearbeitet, die Infrastruktur dafür aufzubauen und
etwas über die jesidische Kultur zu lernen‘, sagte [Dr. Yaakov] Hoffman [ein
klinischer Psychologe und Forscher]. ‚Wir haben versucht, ein optimales Modell
für ein effektives Training in diesen Situationen zu entwickeln, aber
letztendlich sind die Personen, die das Training durchlaufen, keine Psychologen
und Experten für psychische Gesundheit. Wir können also nicht wissen, welchen
Beitrag das Training wirklich leisten wird.’ In den letzten zwei Wochen haben
die Frauen Unterricht im Umgang mit Depressionen, Angstzuständen, Albträumen
und anderen Schlafstörungen erhalten. Sie besuchten auch die Strände in Tel
Aviv, die Klagemauer und die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Ungeachtet des
Wertes der Berufsausbildung, die sie erhalten haben, scheinen sie auch Urlaub
zu brauchen. Sie kehren in eine äußerst schwierige Situation zurück.“
(Ido Efrati: „Yazidi Women Training in Israel to Help Their
Community Cope With the Trauma of ISIS“, Haaretz, 6.7.19)