Der Gründer der Organisation Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF), Lothar Kreyssig (1898–1986), ist gemeinsam mit
seiner Frau Johanna posthum von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad
Vashem als »Gerechter unter den Völkern« geehrt worden. Das Ehepaar Kreyssig
versteckte und versorgte die Jüdin Gertrud Prochownik von November 1944 bis zum
Ende des Krieges in ihrem Haus und rettete ihr so das Leben.
Gertrud Prochownik verließ im
April 1943 ihre Berliner Wohnung und ging in den
Untergrund, um ihrer
Deportation zu entgehen.
Lothar Kreyssig organisierte
ein Versteck für sie, bis sie im November 1944 bei der Familie Kreyssig selbst
aufgenommen wurde.
Bei der Ehrung am Dienstag in der Stiftung Neue Synagoge Berlin
- Centrum Judaicum waren der Sohn der Kreyssigs, Jochen Kreyssig, sowie zwei
Enkel und mehrere Urenkel zugegen. Seitens der Geretteten waren unter anderem die Enkelinnen
von Frau Prochownik, die Zwillinge Jenny und Julie Krausz, sowie drei Urenkel anwesend.
Botschafter Jeremy Issacharoff,
der die Urkunde und Medaille stellvertretend an Jochen Kreyssig überreichte, nahm in
seiner Rede unter anderem Bezug auf die Tatsache, dass durch die Rettung
Prochowniks mehreren Generationen von Menschen das Leben geschenkt wurde.
Die Veranstaltung fand am 120.
Geburtstag Lothar Kreyssigs statt – 60 Jahre, nachdem dieser die Aktion
Sühnezeichen Friedensdienste gegründet hatte. Botschafter Issacharoff sagte
dazu:
„ASF wurde parallel zu der
blanken Zerstörung und dem moralischen ‚Zivilisationsbruch‘ der Schoah
gegründet, der nach dem Zweiten Weltkrieg offenbar wurde. Der gewaltige
physische Wiederaufbau unterstrich auch die Notwendigkeit einer tiefgehenden
moralischen Rekonstruktion der deutschen Gesellschaft, und die Versöhnung mit den
Überlebenden wurde von ASF als unerlässlicher erster Schritt angesehen. Ebenso,
wie es Lothar moralische Pflicht war, Getrud zu retten – so sah er es auch als
moralische Pflicht, die Erinnerung an die Schoah am Leben zu halten und alles
in seiner Macht stehende zu tun, um sicherzustellen, dass ein historischer
Revisionismus im Nachkriegsdeutschland oder dem heutigen Deutschland keinen
Platz haben würden.
[…]
Es ist heute klar, dass
Johanna und Lothar mehr als nur eine Seele gerettet haben. Sie haben ein ganzes
Universum unserer Werte gerettet.“
Im Namen der Familie Kreyssig
sprach Prof. Martin Kreyssig, Enkel von Johanna und Lothar Kreyssig.
Er sagte in seiner Rede unter
anderem:
„Die feierliche Ehrung heute
fügt sich in größere Zusammenhänge. In diesem Jahr wurde die Gründung des Staates
Israel 1948 – vor 70 Jahren – gefeiert. Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
wurde durch Lothar Kreyssig 1958 ins Leben gerufen. […] Die Gründung des Staates
Israel war die zwingende Konsequenz aus der Shoah, dem europäischen Zivilisationstrauma
schlechthin. Die Gründung von Aktion Sühnezeichen geschah aus der Gewissheit,
dass es nur Frieden geben kann, wenn für die Verbrechen, die im Namen der Deutschen
verübt wurden, eine gemeinsame Verantwortung übernommen wird.
Die feierliche Ehrung findet
heute in einer Zeit statt, in der die deutsche wie die europäischen
Gesellschaften, die europäische Staatenfamilie, vor der Herausforderung eines
erstarkenden Nationalismus, Antisemitismus und Fremdenhass stehen. […]
Johanna und Lothar Kreyssig
sind Vorbilder für mitmenschliches Handeln, Vorbilder auch für eine ungehorsame
Zivilgesellschaft, die sich Minderheiten wie Mehrheiten entgegenstellt, um
Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Verantwortung für das Leben zu schützen. Meine
Großeltern haben ihre Angst überwunden und Mut bewiesen in einer politischen
Situation, die wir uns nur schwer vorstellen können. Einmal mehr mag uns
nachkommenden Generationen diese Haltung Vorbild sein, für eine
Wertegesellschaft einzutreten – einzustehen für unsere Überzeugungen. Zu Frieden
und Freiheit existiert keine Alternative, es gibt keine Alternative zu
Mitmenschlichkeit und einem friedlichen Miteinander der unterschiedlichen
Lebenswege, Glaubensrichtungen und politischen Überzeugungen.“
Gertrud Prochownik wanderte nach Kriegsende 1946 nach England
aus. Dort lebte bereits ihre Tochter Marianne, die noch vor Beginn des Krieges
dorthin emigriert war.
Die Zwillingstöchter Marianne Krausz‘, Jenny und Julie
Krausz, sprachen ebenfalls bei der Ehrung.
Julie Krausz erzählte, ihre, von ihnen „Omi“ genannte,
Großmutter habe niemals über die Umstände ihres Überlebens gesprochen.
„Erst nach dem Tod unserer Mutter Marianne im März
2016 entdeckten wir einige Papiere, die mit der Geschichte unserer Familie in
Zusammenhang standen. Zufällig entdeckten wir Kopien von Gertruds Korrespondenz
mit Lothar Kreyssig, die von 1945 stammte. Sie schrieb über die Erfahrungen,
die zu ihrem Aufenthalt auf dem Hof von Lothar und Johanna geführt hatten –
ihre Flucht aus Berlin, verfolgt von der Gestapo, die Reise zu einem Versteck
auf dem Land, ohne Papiere, mit einer Zyanid-Tablette als letztem Ausweg. Ihre
Geschichte ist trauriger Weise nicht außergewöhnlich, aber für meine Schwester und mich war sie eine Offenbarung. Welch inspirierende, starke Frau unsere Omi war.
Als Teenager hatte ich das
Glück, Jochen kennen zu lernen – einen der Söhne von Lothar und Johanna
Kreyssig, sowie seine Frau Gudrun und ihre drei Kinder Ulrike, Stefan und Martin.
Ich war 13, als ich sie bei Frankfurt besuchte, und wir sind seitdem enge
Freunde. Erst kürzlich begann ich, die Größe des Risikos zu verstehen, das die
Kreyssigs eingegangen sind, um Leben zu retten. Ich hoffe ehrlich, dass unsere
beiden Familien diese Verbindung auch über zukünftige Generationen aufrechterhalten
werden.“
(Botschaft des Staates Israel,
01.11.18)