Von Shlomo Kraus, Ynet, 08.05.12
Die Umfragen belegen es eindeutig: Barak würde die Prozenthürde nicht überwinden, und Mofaz befindet sich im freien Fall. Doch im Moment halten beide zusammen 33 Mandate, die für 886.839 Stimmen stehen. Das heißt, beinahe eine Million Bürger sitzen jetzt zu Hause in dem Gefühl, dass man ihnen ihre Stimme geklaut hat. Beinahe eine Million Bürger fordern: Gebt uns unser Mandat zurück.
In den vergangenen Tagen waren die meisten von uns verwirrt. Sind Neuwahlen gut oder schlecht, koscher oder nicht? Dienen sie der Rechten oder der Linken? Nicht nur das Volk, auch die Experten waren ratlos und wussten nicht, ob sie dafür oder dagegen sein sollten.
Aber jetzt ist es klar: es kann nicht sein, dass ein Viertel der Sitze in der Knesset von Politikers besetzt ist, die die Stimmen der Wähler als Geisel halten. Wer Kadima gewählt hat, hat nicht Mofaz gewählt, und wer die Arbeitspartei gewählt hat, hat kein Interesse daran, die Atzma’ut-Partei von Ehud Barak zu finanzieren, die ohnehin nur eine vorübergehende Erscheinung ist.
Die Wähler von Kadima wollten eine Zentrumspartei, die nach einer neuen Politik strebt. Stattdessen haben sie eine neue Folge der Reality-Show „Überleben im Regierungsviertel Giv’at Ram“ bekommen, die leider nicht nach einer Stunde zu Ende ist und bei der die Kandidaten es sich auf Kosten der Bürger, des Bildungs- und Gesundheitssystems und der Sicherheit gemütlich machen. Alles ist erlaubt im Big-Knesset-Haus, und die SMS der Zuschauer zu Hause haben keinen Einfluss auf den Ausgang der Show.
Was verärgert uns mehr: die Lüge eines Politikers, der über Nacht seine Haut wechselt? Die Euphorie, mit der sein Schritt einhergeht? Oder die selbstzufriedenen Gesichter unserer Führer, die sich in der Nacht wie Diebe aus dem Haus schleichen, mit dem Grinsen einer Katze und den unschuldigen Augen eines Rehs? Das tun wir alles nur für euch, werden sie uns sagen. Eine Regierung der nationalen Einheit, eine stabile Koalition. Auch mir geben diese Worte ein gewisses Gefühl des Stolzes und der Sicherheit. Doch es sind nichts als leere Worte. Die Koalition besteht aus Parteien, deren Ideologien einander diametral entgegengesetzt sind, und der einzige Kleber, der sie zusammenhält ist nicht die Treue der Wähler sondern die öffentlichen Gelder.
Wie unterschiedlich sind die Parteien Schass und Israel Beiteinu, Ha-Beit ha-Yehudi und Kadima. Netanyahu hat dafür gesorgt, dass die Sitze seiner Partner mit zig Minister-, Vizeminister- und anderen Posten gepolstert sind. Hunderte Millionen Shekel kosten diese Posten, und da sind die vielen Geschenke im Haushalt bei der Verteilung des Kuchens noch gar nicht eingerechnet. Netanyahu hat Barak für die fünf Mitglieder seiner Fraktion nicht weniger als vier (!) Ministerposten und einen Ausschussvorsitzenden zugestanden.
Und Mofaz hat sich der Regierung Netanyahu nicht angeschlossen, um Einfluss auf ihre Politik auszuüben, sondern um den eigenen Kopf noch für einige Monate über Wasser halten zu können. Dafür erhält er das Gehalt eines Ministers ohne Geschäftsbereich mit allen sonstigen Vergünstigungen, und ähnlich ergeht es auch allen Mitgliedern seiner Fraktion, die sonst hätten ab 5. September Arbeitslosenunterstützung bezogen hätten.Es geht hier nicht um links gegen rechts, hier steht die Regierung gegen ihre Bürger.
Die Politiker sagen uns damit: Wenn ihr es uns nicht gebt, dann nehmen wir es uns eben. Was kümmern es sie, sie wissen ja, dass wir Schwächlinge sind. Dass wir vorher keine Probleme gemacht haben und es auch weiterhin nicht tun werden. Sie werden alles tun, wonach ihnen der Sinn steht, und die Medien räumen dann hinter ihnen auf. Sie geben den Anarchisten, den Ausländern, Europa, den Protesten die Schuld. Alle anderen handeln allein aus persönlichem Interesse, und nur sie, die Spitze der Koalition, sind die großen Philanthropen.
Bis zum Montag gab es keinen Grund für vorgezogene Neuwahlen, doch jetzt haben wir 886.839 Gründe dafür. Was hier passiert ist, ist nicht nur ein „Coup“, es ist ein abscheuliches Verbrechen. Eine Koalition, die 94 Knessetabgeordnete hinter sich hat – das bedeutet, dass es in der Knesset eigentlich keine Opposition mehr gibt, dass wir schon nicht mehr in einer Demokratie leben. Und wenn es in der Knesset keine Opposition gibt, dann ist das Volk die Opposition.
Wir müssen ihnen das Lächeln aus dem Gesicht wischen, der Selbstzufriedenheit entgegenstehen und sagen: „Das ist unser Staat“. Hier geht es nicht um links oder rechts, sondern um Regierung gegen Volk. Wir lassen uns unseren Staat nicht stehlen, nicht ohne zu kämpfen.
Der Autor ist Journalist und Dichter, er engagiert sich bei den gesellschaftlichen Protesten.