Von Ari Shavit, Haaretz, 12.04.12
Günter Grass hat uns alle auf die Probe gestellt. Der merkwürdige Text, den er vor einer Woche in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hat, enthält zwar keinen Antisemitismus der alten Schule und auch keine Goebbelssche Propaganda, doch liegen unter den peinlichen Zeilen drei Aussagen verborgen, die man näher betrachten sollte. In der ihm eigenen Art sagt Günter Grass in etwa folgendes: Ich bin nicht bereit, weiterhin meinen Abscheu vor Israel wegen meiner Nazi-Vergangenheit zu unterdrücken; ich denke, dass eine Atommacht Israel den Weltfrieden gefährdet; die Tatsache, dass mein Volk 1942 die Juden ermordet hat, rechtfertigt nicht, dass Israel 2012 über Atomwaffen verfügt.
Mit den sensiblen Instinkten eines großen Schriftstellers hat Günter Grass auf radikale Art und Weise einer tiefsitzenden Auffassung Ausdruck verliehen, die sich heute in den dunklen Kellern des neuen Deutschlands, des neuen Europas und der neuen Linken ausbreitet. Dieser Auffassung zufolge ist nicht der Iran, sondern Israel heute der Aggressor im Nahen Osten. Und nicht die radikalen Schiiten, sondern die radikalen Israelis sind die neuen Nazis. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in Zukunft im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen sollte, sind nicht die Verbrechen der Nazis gegen die Juden, sondern was die Juden den Iranern antun wollen. Und daher sollte man, gerade wegen der Shoah, den Juden das Recht absprechen, eine Atommacht zu sein, denn das könnte zu einer zweiten Shoah führen.
Grass ist das Gegenstück zu Binyamin Netanyahu: Auch er zieht gerne eine direkte Linie zwischen Auschwitz und der nuklearen Bedrohung. Doch aus Sicht des schnauzbärtigen deutschen Schriftstellers befindet sich diese Bedrohung im israelischen Dimona. Mit letzter Tinte zieht Grass die Shoah heran – nicht, um den Reaktor im iranischen Natanz aufzuhalten, sondern um Dimona zu zerlegen. Er fordert auch, Israel das "Zweitschlag-U-Boot" abzusprechen, das ausländischen Medien zufolge seine Existenz sichert. Der Soldat in SS-Uniform und spätere Humanist beendet sein Leben genau dort, wo er es begonnen hat.
Für Grass geht von amerikanischen, russischen, britischen, französischen, chinesischen, indischen und pakistanischen Atombomben keine Gefahr aus. Und auch eine iranische Atombombe stellt nicht wirklich eine Bedrohung dar. Was unsere Welt wirklich an den Rand der Zerstörung bringen könnte, sind die Atomwaffen, die Israel zugeschrieben werden. Die Fähigkeit der Juden, sich selbst zu verteidigen und damit ihre Vernichtung zu verhindern, raubt dem Moral-Guru aus Lübeck den Schlaf.
Grass stellt uns vor eine ernsthafte Herausforderung. Es ist der Versuch, die positive Diskriminierung aufzuheben, unter deren Schutz das jüdische Volk seit 1945 steht – in Zusammenhang mit allem, was sein Überleben sichert. Es liegt darin der Versuch, Israel das moralische Sicherheitsnetz abzusprechen, das die Basis für das strategische Sicherheitsnetz darstellt, das wiederum die Existenz des Staates Israel garantiert. Dieses Mal werden nicht die Besatzung und die Siedlungen angegriffen, sondern Dimona. Der Vorkämpfer der europäischen Linken versucht jetzt, Israel die Macht der Abschreckung abzusprechen, auf der seine Sicherheit beruht.
Binyamin Netanyahu und Avigdor Lieberman haben sehr gute Antworten auf Grass gegeben, doch niemand in der Welt hört ihnen zu. Innenminister Eli Yishai hat aggressiv auf Grass reagiert und damit Israel schweren politischen und moralischen Schaden zugefügt. Doch wer überhaupt nicht reagiert hat, ist die zionistische Linke. Kein Schriftsteller hat in fließendem Englisch eine feurige Rede gehalten. Kein Intellektueller hat einen profunden Artikel in der New York Times geschrieben. Meretz und Peace now haben geschwiegen. Die Moralisten sind schnell dabei, jeden verwirrten Rabbi aus der Siedlung Yitzhar zu verurteilen – aber angesichts der beängstigenden Worte eines Nobelpreisträgers haben sie geschwiegen. Während das offizielle Deutschland seinen obersten Schriftsteller lautstark verurteilt hat, blieb das aufgeklärte Israel stumm. Die moralische israelische Linke hat den Grass-Test nicht bestanden.
Im Moment sieht es so aus, als sei der Sturm vorüber. Doch das schwere moralische Scheitern Grass' und die ausbleibende Reaktion seitens der zionistischen Linken verheißen nichts Gutes. Sie lehren uns, dass die langen Jahre der Besatzung die Gemüter verwirrt haben und Schlüsselkonzepte vergessen machen. Sie zeigen auch, dass die leitenden Intellektuellen im Westen und in Israel nicht mehr fähig sind, zur Verteidigung des Staates Israel auszuziehen. Was Grass gesagt hat und was nicht gegen ihn gesagt wurde, zeigt, dass der Samen der Delegitimation langsam Früchte trägt.
Der Autor ist Journalist und Publizist.
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