Früher war nicht alles besser

Früher war nicht alles besser

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    Von Yossi Beilin, Israel Hayom, 03.02.12
     
    Als ich ein kleiner Junge war, war nicht alles besser. Es war schlechter. Tel Aviv war eine Stadt, die kurz davor stand zu kippen. Der Winter machte sie noch hässlicher, als sie ohnehin schon war. Der Süden der Stadt war grau und alt. In der Schule sollten wir über Berufe in der Stadt schreiben. Damals, in den 50er Jahren, gab es Schuhmacher, die in Hauseingängen unter der Treppe arbeiteten. Wir dachten, dass Tel Aviv mindestens 200 Jahre als sei. Auch das berühmte Gymnasium Herzliya schien uns sehr alt.
     
    Als ich ein kleiner Junge war, gab es Lehrer, die ihre Schüler mit dem Lineal schlugen und sie beleidigten, wenn sie schwatzten oder die Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Es gab keine Avocados, es gab auch keine tropischen Früchte. Alles wurde immer nur halb gekauft: ein halber Laib Brot, ein halbes Päckchen Butter (damals noch in Unzen). Im Tante-Emma-Laden musste man nicht bezahlen, Herr Averbuch hatte ein großes Heft mit Fettflecken, und jede Familie hatte eine Seite, in der ihre Schulden aufgelistet waren. Manchmal, wenn Gäste kamen, kaufte ich Käse und bat Herrn Averbuch, sie ganz ganz dünn zu schneiden, damit das kleine Stück Käse möglichst viele Scheiben ergab.
     
    Die Friseure hießen Friseur und nicht Hairstylist – und niemandem wäre es eingefallen, sie in dem einzigen Medium zu interviewen, das es damals gab: "Kol Israel aus Jerusalem", der einzige Radiosender im Land (abgesehen von dem Armeeradiosender, der erst ab nachmittags sendete und immer mit "Gruß und Lied" eröffnete).
     
    Das Radio war sehr beängstigend, besonders die Sendung, wo Verwandte gesucht wurden. Es waren die Namen aus der Diaspora: Blume und Chaia, Feygel, Herschel und Zalman. Die Sprecher lasen sie vor wie bei einem Appell. Jeden Mittag. Auch die Nachrichten. Immer ernst, feierlich, irgendwie bedrohlich. Alle versammelten sich ums Radio, und Vater richtete die Antenne aus, und die bekannten Sprecher kamen zu uns ins Wohnzimmer. Sogar wenn sie die Wettervorhersage vorlasen, musste man vor Ernst noch strammstehen.
     
    Der Hunger des Eisschranks musste alle ein oder zwei Tage mit einem halben Block Eis gestillt werden, den wir beim Eismann kauften. Er kam jeden Tag auf seinem alten Pferd durch unsere Straße und rief seine Ware aus. Jeden Tag gab es eine lange Schlange von Menschen mit spitzen Zangen, die den Block von beiden Seiten fassten und nach Hause trugen – eine Wasserspur hinterlassend.
     
    Es war laut auf der Straße. Jeder verkündete, welche Waren er zu verkaufen hatte. Es gab den "Alte Sachen"-Karren, die Eis- und Holzverkäufer und den Scherenschleifer, die Zeitungsverkäufer und solche, die alle möglichen erfundenen Schlagzeilen vorlasen (meistens solche, in denen wir alle unsere Feinde besiegt hatten), und die das damit rechtfertigten, dass auch sie von irgendetwas leben mussten.
     
    Und zu Hause gab es einen Samowar, der immer gefüllt war. Wenn Gäste kamen, fragte man sie nicht, was sie gerne trinken würden sondern, ob sie gerne Tee hätten. Ein anderes Getränk stand nicht zur Wahl.
     
    Ich verspüre also wirklich keine Nostalgie, wenn ich an diese Tage zurückdenke. Die Tatsache, dass alles schwieriger zu bekommen war und viel Zeit erforderte, macht mich sehr froh darüber, dass es heute anders ist. Doch wenn jeder Koch gleich ein Küchenchef ist und jeder Küchenchef ein Meisterkoch, jeder Nachrichtensprecher gern Ministerpräsident wäre, dann schaue ich doch hin und wieder zurück und denke, dass die Menschen in diesen schweren Tagen die Dinge vielleicht doch mit etwas mehr Ernst angegangen sind.  
     
    Der Autor ist ehemaliger Minister und ehemaliges Knessetmitglied. Heute ist er als Geschäftsmann tätig.
     
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