Der innere Kompass funktioniert noch
Von Arie Maliniak, Ynet, 18.04.12
Die Diskussion über die Ausstrahlung der Halbfinalspiele der Champions League an den beiden Gedenktagen macht mich verrückt. Nicht die dummen Argumente, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt stattfindet, 70 Jahre nach der Shoah.
Es ist davon auszugehen, dass das Zweite Programm in dreißig Jahren eine Reality-Show aus dem KZ sendet, aber solange noch Überlebende unter uns sind, kann man den Verfall der Sitten doch ein wenig aufhalten. In den vergangenen Tagen habe ich verschiedene Argumente für die Ausstrahlung am Holocaustgedenktag gehört: Meinungsfreiheit, Handlungsfreiheit, Freiheit, die Beschäftigung selbst zu wählen. Dabei ist klar: Was gesendet wird, wird gewählt. In der Halbzeitpause könnte man dann ja im Studio eine Diskussion zum Shoah-Gedenken abhalten.
Mit demselben Argument könnte man aber auch ein Rockkonzert im Yarkon-Park veranstalten. Schließlich sind die Menschen alt genug, selbst zu entscheiden, was sie tun möchten. Der Staat sollte sich da nicht einmischen.
Mir geht es nicht darum, dass eine "Holocaust-Polizei" die Häuser stürmt, aus denen Freudenschreie zu hören sind, wenn Barcelona ein Tor schießt. Doch der Staat mischt sich ja auch bei anderen Themen ein. Er erhebt Steuern, erlässt Gesetze, lässt uns nicht so schnell fahren, wie wir gern würden, zieht uns zur Armee ein. Und am Holocaust-Gedenktag sollen auf einmal die Zuschauer selbst entscheiden, ob sie ein Fußballspiel sehen wollen oder nicht.
Unter uns gesagt, wenn es um ein Spiel zwischen dem FC Basel und Real Sociedad gegangen wäre, wären alle dafür gewesen, es nicht zu übertragen. Doch auf Barcelona gegen Chelsea möchte niemand verzichten, denn wir sind mittlerweile ein Volk, das nicht bereit ist, ein Vergnügen aufzuschieben. Jeder will als erster das neue iphone kaufen oder das erste Hemd im neuen schwedischen Ramschkleiderladen im Einkaufszentrum.
Wenn es kein Morgen gibt, ist gestern nicht wichtig. […] Doch auch, wenn einige der Meinung sind, "das Leben muss weitergehen", so bin ich doch der Meinung, dass am Holocaustgedenktag das Leben eben nicht wie immer weitergehen muss.
[…] Es besteht kein Zweifel, dass Lionel Messi und Andrés Iniesta die Werte, mit denen wir aufgewachsen sind, auf eine schwere Probe stellen. Ich bin nicht gläubig, aber es würde mir niemals in den Sinn kommen, die Gefühle von Menschen zu verletzen, die Yom Kippur einhalten möchten. Wenn der Sportsender sendet, warum sollten dann nicht an Yom Kippur die Einkaufszentren und Freizeitparks geöffnet sein? Die Mehrheit der Spieler in der Ersten Liga sind ohnehin Ausländer. Dann können sie doch auch spielen. Die Fans sind schließlich alt genug zu entscheiden, ob sie zuschauen wollen oder nicht.
Wer den Fernseher anmacht ("Dafür hab' ich mir ja schließlich die 50'' gegönnt, oder?"), um das Spiel auf einem ausländischen Sender zu schauen ("Is' ja schließlich Barça, Baby") hat den inneren Kompass verloren. Mir scheint, wir haben vergessen, wofür dieser Staat gegründet wurde. Ich stelle mir meine Großeltern vor, wenn sie Auschwitz überlebt hätte, wie sie am Tag der Befreiung am Tor stehen, bleich und ausgemergelt. "Was sagst du", hätte meine Großmutter gesagt, "gehen wir endlich ins Restaurant?" "Wozu denn essen", hätte mein Großvater geantwortet. "Heute spielt Barcelona gegen Chelsea." Denn bei allem Respekt vor der Shoah – wie hoch sind schon ihre Einschaltquoten?
Der Autor ist Sportreporter.
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Lesen Sie hierzu auch den zweiten Kommentar "Fußball ja, aber ohne Kommentatoren".